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Avner Shalev, geboren 1939, ist seit 1993 Vorsitzender der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.

© picture alliance / dpa

Vorsitzender der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem: Angst vor dem Kollaps unserer offenen Gesellschaften

Avner Shalev zeigt sich angesichts der Erfolge radikaler Kräfte in westlichen Ländern besorgt. Der Vorsitzende der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem über Erinnerungskultur und neue Angriffe auf die freie Gesellschaft.

Herr Shalev, wie steht es um die Beziehung zwischen Israel und Deutschland?

Vergebung wird es niemals geben. Vor allem die Juden werden sich immer an das erinnern, was war. Aber in den Jahren sind feste Beziehungen gewachsen zwischen dem Staat Israel und Deutschland und auch zwischen unseren beiden Gesellschaften. In einigen Fällen sind sogar Freundschaften entstanden. Aber es gibt Teile der israelischen Gesellschaft, die noch keine normalen Beziehungen zu Deutschland führen können.

Ist das auch ein Grund, warum beispielsweise noch kein deutscher Kanzler bei der zentralen Zeremonie am Holocaust-Gedenktag in Yad Vashem dabei war?

Das hat damit zu tun. Bis vor wenigen Jahren war es noch undenkbar, dass ein deutscher Botschafter zu so einer Zeremonie kommt. Das immerhin hat es schon gegeben. Bei einem Kanzler hängt es stark von der Person und seiner Politik ab. Angela Merkel ist zweifelsohne eine Freundin Israels. Aber für den Besuch einer solch wichtigen Gedenkveranstaltung wäre es noch etwas zu früh.

Bei der diesjährigen Zeremonie war der österreichische Kanzler Kern zu Gast. War das unumstritten?

Das war es nicht. Aber es ist gut gewesen, dass er da war, denn auch das beeinflusst Diskussionen und Debatten in Österreich über die Rolle des eigenen Landes mit dem Holocaust. Außerdem hat er sich Zeit genommen und das Museum in Yad Vashem besucht.

Muss Deutschland mehr Verantwortung übernehmen?

Der Holocaust ist ein einschneidendes Ereignis in der Zivilisationsgeschichte gewesen. Und Deutschland hat sich schon oft zu seiner Verantwortung dafür bekannt. Ich erwarte, dass dies eine ernsthafte und verlässliche Botschaft ist, die durch reales Handeln untermauert wird. Es geht in diesem Punkt um eine Führungsrolle in Europa. Und Angela Merkel steht für Werte wie Offenheit, Freiheit und Völkerverständigung. Sie zahlt auch einen Preis dafür – gerade mit Blick auf die Flüchtlingskrise. Da geht es genau um die Normen, die Deutschland nach dem Holocaust entwickelt hat. Es ist wichtig für uns, für die deutsche aber auch die gesamte europäische Gesellschaft, solche Werte auch zu verteidigen.

Wie wichtig war der Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Israel insbesondere nach dem Eklat zwischen dem deutschen Außenminister Sigmar Gabriel und dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu?

Der Besuch von Frank-Walter Steinmeier war sehr wichtig und sehr emotional. Er hat stark dazu beigetragen zu verstehen, warum es so notwendig ist, über den Holocaust zu reden, darüber zu informieren, sich an ihn zu erinnern. Und der Besuch des Bundespräsidenten hat verdeutlicht, warum es wichtig ist, gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, um zu gedenken.

In Deutschland und Europa fürchten sich viele Juden, ihre Religion offen auszuleben...

Ich bin sehr besorgt. Ich hätte vor zehn Jahren nie gedacht, dass wir in eine solche Situation kommen, wie wir sie jetzt erleben. Natürlich gab es schon immer rechte Tendenzen. Aber dass diese mal so eine Kraft entwickeln und zu großen Wahlerfolgen rechter Parteien führen, hätte ich nicht erwartet. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Werte der freien, liberalen Gesellschaft angegriffen und zerstört. Deutschland hat diese Werte in einem langen Prozess wieder aufgebaut. Und jetzt sind wir an einem Punkt, wo genau diese Werte erneut attackiert werden. Ich habe Angst, dass es wieder zu einem Kollaps der Säulen unserer offenen, freien und liberalen Gesellschaften kommt.

Betrifft das vor allem jüdische Teile der deutschen und europäischen Bevölkerung?

Das betrifft auch Juden, natürlich. Aber es geht hier um ein globaleres Problem. Werte und Normen verschieben sich. Radikalere Kräfte gewinnen an Einfluss. Dieser beinahe universelle Trend beunruhigt mich.

Was spüren Sie – Angst, Wut, Traurigkeit?

Es ist Wut mit einem Schuss Angst. Wut, weil es eine große Anstrengung war und viel Kraft gekostet hat, die Gesellschaft und die Werte nach dem Krieg und nach dem Holocaust wieder aufzubauen. Und es ist eben Angst, dass dieser Prozess nicht nur gestoppt, sondern zerstört wird. Traurigkeit ist es nicht. Denn das würde eine gewisse Hilflosigkeit bedeuten und die gibt es nicht. Man kann etwas dagegen tun. Und einige Staaten kämpfen auch dagegen an. Insbesondere in Deutschland sehe ich das. Aber Länder wie Ungarn sind schwieriger. Dort findet eine extreme Werteverschiebung statt. Und wir wissen auch noch nicht, was der Brexit genau bedeuten wird für die europäische Entwicklung. Insgesamt steht die Europäische Union deshalb vor einer ungewissen Zukunft – und das ist nicht gut.

Aber was kann man gegen diese Entwicklung tun?

Es ist vielleicht naiv, aber ich glaube an Bildung. Wir müssen Führungskräfte ausbilden, junge Leute, in Schulen, Unternehmen, Politik in der Gesellschaft insgesamt, die diese beschriebene Verantwortung kennen und tragen. Es sind die, die die Erinnerung weitergeben und die Relevanz herausstellen. Dafür haben wir von Yad Vashem schon einige Kooperationen auch mit deutschen Schulen, aber wir brauchen mehr.

Wie sieht es mit Kooperationen in Berlin aus?

Über 3000 Lehrer und politische Entscheider haben in den vergangenen 15Jahren an Seminaren in Yad Vashem teilgenommen. Es gibt mittlerweile enge Kooperationen mit zehn Bundesländern in Deutschland. Im September 2016 traf sich eine Delegation der Europäischen Abteilung von Yad Vashem mit Vertretern des Berliner Senats. Und am 26. Juni wird in Berlin im Haus der Wannseekonferenz eine gemeinsame Absichtserklärung zur Bildungskooperation von der Senatorin Scheeres und unserem Direktor Gevir unterzeichnet. Bei diesen Seminaren geht es nicht nur um die Geschichte des Holocaust, sondern auch darum zu vermitteln, was überhaupt Antisemitismus ist. Manche argumentieren in Diskussionen antisemitisch und wissen es gar nicht.

Herr Shalev, Sie sind seit 1993 Präsident von Yad Vashem, was hat sich in dieser Zeit am meisten verändert?

Auch da spielt Bildung eine wichtige Rolle. Wir haben bis in die 90er Jahre hinein den Holocaust vor allem als historisches Ereignis vermittelt. Da ging es um Wissen. Doch der Holocaust berührt heute noch so viele Lebensbereiche, dass es eben kein isoliert historisches Ereignis ist, sondern noch heute Einfluss ausübt. Das zu vermitteln, macht sich Yad Vashem zur Aufgabe. Heute haben wir eine richtige Schule und vermitteln Wissen.

Wie hat sich aber das Erinnern in dieser langen Zeit verändert?

Wir haben in Yad Vashem einen entscheidenden neuen Weg gewählt. Denn es geht um Dokumentation und darum, den Opfern Namen, Gesicht und Geschichte zurückzugeben. Zunächst ging es recht schleppend voran, Namen und Geschichten zu sammeln und zu dokumentieren. Dann haben wir unsere Methodik verändert, sodass wir heute die Namen und zum Teil auch die Schicksale von 4,7 Millionen ermordeten Juden kennen. Und ich bin optimistisch, dass wir die Fünf-Millionen-Grenze auch noch schaffen. Bis vor einigen Jahren ging es noch darum zu zeigen, was die Nazis uns angetan haben. Jetzt geht es auch darum, Namen und Gesichter der Opfer zu zeigen.

Was ist die nächste große Aufgabe?

Es kommt jetzt ganz entscheidend darauf an, die Geschichten der noch lebenden Holocaust-Überlebenden zu sichern mit Videos und Dokumenten. Denn die Erinnerung wird sich verändern, wenn alle Überlebenden tot sind.

Was glauben Sie, wie wird man sich in 50 Jahren an den Holocaust erinnern?

Schwer vorherzusagen. Ich bin überzeugt davon, dass man sich auch in 50 Jahren noch an den Holocaust erinnern wird, die Frage ist nur, wie. Die Frage ist nur, ob der Holocaust ein historisches Ereignis sein wird wie jedes andere oder ob es als ein wirklich relevantes, einschneidendes Ereignis wahrgenommen wird. Es gibt in Europa, aber auch weltweit genug Kräfte, die die Erinnerung wachhalten. Aber auch genug Figuren, die dagegen ankämpfen. Und die kommen von der extremem Rechten und der extremen Linken.

Muss Yad Vashem präsenter sein – auch in Deutschland?

Einerseits ja. Wir brauchen mehr Partnerschaften und Kooperationen. Aber andererseits sollte nicht der Eindruck entstehen, dass nur Yad Vashem für das Erinnern zuständig ist und sich um den Holocaust und seine Folgen kümmert. Wir können Motor, Informations- und auch Inspirationsquelle sein. Aber die Aufgabe, sich zu erinnern, Lehren zu ziehen, fällt uns allen zu.

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