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Premierminister Justin Trudeau könnte sich sein eigenes politisches Grab geschaufelt haben.

© Carlos Osorio/Reuters

Vorgezogene Neuwahl in Kanada: Justin Trudeaus riskantes Spiel

Mit Neuwahlen wollte Kanadas Premier seine Macht retten – jetzt droht seiner Partei eine Niederlage. Mehrere Umfragen sehen die Konservativen knapp vorn.

Mit seiner Entscheidung, vorgezogene Neuwahlen auszurufen, obwohl dafür keine Notwendigkeit bestand, hat Kanadas liberaler Regierungschef Justin Trudeau eine politische Zukunft aufs Spiel gesetzt. Vor der Wahl am 20. September sehen mehrere Umfragen die Konservativen von Erin O’Toole knapp vor den Liberalen.

Vom Ziel, gestärkt aus der Wahl hervorzugehen, scheint Trudeau weit entfernt. Am Ende könnte für die Liberalen sogar der Verlust der Regierung stehen.

Trudeau, dessen liberale Partei in der Parlamentswahl im Oktober 2019 die vier Jahre zuvor errungene absolute Mehrheit der Sitze verloren hatte und nur eine Minderheitsregierung bilden konnte, begründet die Neuwahlen damit, dass in „diesem Schlüsselmoment“ die Bevölkerung über den weiteren Weg im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie und beim Wiederaufbau der Wirtschaft entscheiden solle.

Wähler sind gegen Abstimmung

Umfragen zeigen jedoch, dass bis zu drei Viertel der Wähler die Abstimmung für unnötig halten. Immer wieder wird Trudeau damit konfrontiert und fast trotzig antwortet er, er bedauere es „absolut nicht“, Wahlen angesetzt zu haben.

Kanada erlebt die vierte Covid-Welle, in einigen Provinzen brannten die Wälder und der Fall Afghanistans schockierte die Kanadier. Ihr Land hat mehr als zehn Jahre in den Aufbau am Hindukusch investiert und Menschenleben geopfert. Ein Vertrauensvotum im Parlament, das Neuwahlen auslösen kann, hat Trudeau nicht verloren.

Mithilfe der Opposition brachte die Regierung ihren Haushalt samt Maßnahmen gegen die Pandemie und zur Unterstützung von Familien durch. Es gab keinen Grund, Wahlen auszurufen. „Kanada fragte nicht nach einer Wahl, aber es ist wie mit der Pandemie: Hier ist sie“, kommentierte die liberalkonservative „Globe and Mail“ Trudeaus Entscheidung.

Die Wahlkreise entscheiden

Die Liberalen hielten bei Auflösung des Parlaments 155 der 338 Sitze, die Konservativen 119, es folgten der nur in Québec antretende Bloc Québecois und die sozialdemokratische New Democratic Party (NDP). Hinzu kommen Grüne, Unabhängige und ein vakanter Sitz.

In Kanada wird in jedem der 338 Wahlkreise nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt: Das Mandat gewinnt, wer die meisten Stimmen im Wahlkreis hat. Entscheidend ist nicht, landesweit die meisten Stimmen zu erhalten, sondern die meisten Wahlkreise zu gewinnen. Davon profitierte 2019 Trudeau: Die Liberalen lagen beim Stimmenanteil knapp hinter den Konservativen, gewannen aber die meisten Sitze.

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Trudeaus Image als cooler, junger Premierminister, der mit „Sunny Ways“ einen freundlicheren Regierungsstil propagierte, ist längst verblasst. Aber offenbar glaubte der jetzt 49-Jährige, wieder die absolute Mehrheit der Sitze gewinnen zu können, um ohne Rücksicht auf die Opposition regieren zu können, oder zumindest näher an die absolute Mehrheit von 170 Sitzen zu kommen.

Erfolgreiche Corona-Politik

Seine Covid-Politik war überwiegend erfolgreich. Nach holprigem Start lief die Impfkampagne auf Hochtouren. 78 Prozent der Bevölkerung über zwölf Jahren ist voll geimpft, 85 Prozent haben zumindest eine Impfung erhalten. Kaum ein anderes Land ist so erfolgreich beim Impfen. Und Kanada hat sich wieder für den Tourismus geöffnet.

Im Wahlkampf versucht Trudeau, mit seiner Covid-Politik zu punkten. Dass O’Toole – obwohl Befürworter des Impfens – anders als Trudeau keinen Impfzwang für Beamte und Angestellte des Bundes einführen will, nutzt Trudeau zu Attacken auf die Konservativen. Von radikalen Impfgegnern wird Trudeau auf Veranstaltungen beschimpft oder gar bedroht.

Der Vorsitzende der Konservativen Partei Kanada: Erin O'Toole.
Der Vorsitzende der Konservativen Partei Kanada: Erin O'Toole.

© Dave Chan/AFP

Neben der Gesundheitspolitik spielten im Wahlkampf die Wohnungs- und Steuerpolitik und die Schaffung einer bezahlbaren Kinderbetreuung eine wichtige Rolle. Ein Tagesstättenplatz kann monatlich umgerechnet 1000 Euro kosten und Trudeau hat mit den meisten Provinzen zuletzt Vereinbarungen über Milliarden-Investitionen des Bundes getroffen.

Dadurch sollen Kindergartenplätze geschaffen werden, die Eltern nur nicht einmal zehn Euro pro Tag kosten. O’Toole will diese Vereinbarungen aufheben. Ein brennendes Thema spielte nicht die große Rolle, die man erwarten konnte: die Lage der indigenen Bevölkerung. Im Frühsommer hatte der Fund von Gräbern indigener Kinder, die in den vom Staat eingerichteten „Residential Schools“ gestorben waren, die Nation schockiert.

Endet die Ära Trudeau?

Der 48-jährige O’Toole wurde erst vor einem Jahr Parteichef der Konservativen. Trudeau sah es als Vorteil, als der erfahrenere Politiker agieren zu können. Aber sein Vorsprung ist geschmolzen wie das Arktikeis im Sommer. O’Tooles moderates Auftreten findet Zuspruch.

Er ist kein harter Konservativer. Seine Klimapolitik ist zwar schwächer als das, was die Liberalen versprechen, und er ist kein Freund der Kohlenstoffabgabe, die Trudeau eingeführt hat. Aber eine völlige Kehrtwende beim Klimaschutz, wird es vermutlich auch unter O’Toole nicht geben.

Viel wird davon abhängen, wie bundesweit die sozialdemokratische NDP und in Québec der Bloc Québécois abschneiden werden und ob die rechtspopulistische Splitterpartei People’s Party unter Konservativen O’Toole Simmen abnehmen kann. Trudeau hat für seine Partei offenbar keine Zugkraft mehr.

Verlieren die Liberalen die Macht, ist die Ära Trudeau beendet. Selbst, wenn die Liberalen mit einer geschwächten Minderheitsregierung weiterregieren können, käme dies angesichts Trudeaus Hasardspiels und seiner hohen Ziele nach Einschätzung mancher Beobachter eher einer Niederlage gleich.

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