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Verzweifelte Syrerinnen an einer ungarischen Absperrung. Wie wäre ihre Lage heute?

© Leonhard Foeger/Reuters

Vor der nächsten großen Flucht?: Was Europa nach 2015 gelernt hat - und was nicht

Die türkische Invasion in Nordsyrien verstärkt in der EU die Angst vor vielen neuen Flüchtlingen. Wer jetzt kommt, findet eine deutlich andere Lage vor.

Dass sich jenseits des östlichen Mittelmeers die Lage für Flüchtlinge weiter zuspitzt, ist offensichtlich: Die Türkei versucht immer massiver, sich eines Teils der syrischen Geflüchteten zu entledigen – von denen sie mehrere Millionen in den letzten Jahren aufnahm. Aus dem Iran machen sich Tausende Geflüchtete aus Afghanistan auf. Ihre Lage dort ist dramatisch geworden, weil der Iran selbst unter den Auswirkungen der US-Sanktionen leidet.

In beiden Ländern haben die Flüchtlinge ohnehin nur eingeschränkte Rechte, die Türkei beispielsweise hat die Genfer Flüchtlingskonvention nur mit Einschränkungen unterzeichnet. Und seit mehr als einer Woche führt die Türkei selbst Krieg in Nordsyrien, was bereits zigtausende Menschen im bombardierten Kurdengebiet zur Flucht gezwungen hat.

Während dort immer mehr Menschen alles verlieren, sterben, fliehen, macht man sich ein paar tausend Kilometer weiter Sorgen, dass sie die Grenzen Europas erreichen könnten. Bundesinnenminister Seehofer warnte kürzlich vor einer „Flüchtlingswelle wie 2015“ oder noch massiver. 

Fachleute sind da vorsichtiger. Es gebe keinen Zweifel, „dass viele Menschen gezwungen sein werden, internationalen Schutz zu suchen, sagte Petra Bendel, Politikwissenschaftlerin an der Universität Erlangen-Nürnberg und Spezialistin fürs europäische Asylsystem. Wer davon allerdings nach Europa kommen werde, „„lässt sich nicht abschätzen“. Bendel, die seit diesem Jahr auch Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration ist, verweist auf die seit langem sinkenden Zahlen: „2016 bis 2018 sind jedes Jahr deutlich weniger Menschen irregulär nach Europa eingereist und haben einen Asylantrag gestellt.“  Zwar sei die Zahl der Anträge in der EU, Norwegen und der Schweiz in diesem Jahr bis August um etwa zehn Prozent im Vorjahresvergleich gestiegen – allerdings auf alles in allem 495.000 Anträge, kein Vergleich zu den Zahlen der Jahre 2014/15. 

Nur eine Minderheit will nach Europa - und die hat die Mittel nicht

Franck Düvell und sein Team haben die, um die es im wesentlichen geht, selbst befragt: In Interviews, die sie zwischen November 2018 und Februar 2019 mit syrischen Geflüchteten in der Türkei führten, versuchten sie deren Migrationsabsichten herauszufinden. Das wesentliche Ergebnis: Weiterziehen will überhaupt nur eine Minderheit - und der fehlt das Geld dafür.

Düvell, der am Berliner Deutschen Institut für Integrations- und Migrationsforschung (DeZim) die Migrationsabteilung leitet, will die Erkenntnisse der Studie zwar "mit einer gewissen Vorsicht" gelesen wissen, da sie unter schwierigen Umständen stattfand - die Türkei hält zum Beispiel ihre Daten über die syrischen Geflüchteten unter Verschluss. Aber die 1800 Interviews in sechs Städten in der Türkei, in denen 60 Prozent der Syrerinnen und Syrer leben, liefere "eine Annäherung an die Lage und ganz bestimmt einen Trend".

Demnach glaubt nur ein Drittel der Befragten, dass sie in Europa besser behandelt würden, 60 Prozent sehen sich in der Türkei nicht diskriminiert, und weit über 90 Prozent haben nie auch nur versucht, auf eigene Faust und per Boot nach Europa zu kommen. Zirka 15 Prozent wären zwar gern in Europa und meinen auch, sie hätten die nötigen Voraussetzungen, es dort zu schaffen. Aber auch ihnen fehlt, das sagten praktisch alle, das Geld.

Erdogans Drohung "kann so nicht funktionieren"

"Inzwischen steigt zwar der Druck, die Türkei zu verlassen – es gab Razzien und Abschiebungen, jetzt der türkische Angriff auf Nordsyrien – aber an diesem Geldmangel wird sich nichts ändern", sagt Düvell. "Nach Jahren als Flüchtlinge sind alle Ersparnisse verbraucht." Wer nach Europa wolle, "hat das 2015 und 2016 getan". Die türkische Drohung - und Angst der EU - der türkische Staatspräsident könne die Geflüchteten nach Europa weiterreichen, wie es ihm passe, hält Düvell für unrealistisch: "Sie kann so nicht funktionieren, weil Menschen ihre eigenen Vorstellungen und Ziele haben." Und die zeigten in eine andere Richtung: "Die allermeisten, die jetzt noch in der Türkei sind, wollen nicht so weit weg von zu Hause, sie fühlen sich kulturell und religiös der Türkei näher und bevorzugen einen Ort, an dem sie die Entwicklungen zu Hause beobachten und eventuell rasch zurückkehren können." Düvell bezweifelt auch die Zahl syrischer Geflüchteter in der Türkei, die Ankara angibt: Sie liege bei höchstens drei Millionen, das UN-Flüchtlingshilfswerk habe gerade 2,7 Millionen gezählt.

Die Grenzen sind dichter denn je

Bleibt die Frage, was aus denen würde, die sich nach Europa aufmachen können. Wer jetzt kommt, findet eine deutlich andere Lage vor, sagt der Politikwissenschaftler Olaf Kleist, der an der Universität Osnabrück und ebenfalls am Dezim-Institut über Flucht und Flüchtlinge forscht. „Die EU bewacht ihre Grenzen viel stärker als noch 2015“, Durchkommen wäre heute also schwieriger. Wäre Europa auf viele neue Flüchtlinge vorbereitet? „Europa ist jetzt jedenfalls noch viel gespaltener und weniger handlungsfähig als damals. Aus so etwas wie Asylpolitik hat sich die Union faktisch zurückgezogen, die EU konzentriert sich fast ausschließlich auf den Grenzschutz.“

Auch Kleist vermutet, dass weniger Menschen nach Deutschland durchkämen. Und kann auch abschätzen, wie sie heute aufgenommen würden: Kleist hat bereits vor zwei Jahren eine Expertise über die Aufnahmestrukturen in Deutschland erstellt und darüber, was das Land aus dem Höhepunkt von 2014/15 gelernt hat. „Ganz sicher sind die Kommunen heute ganz anders aufgestellt als seinerzeit, sie kennen sich besser aus.“ Außerdem werde es vermutlich genügend Aufnahmeeinrichtungen geben – nach 2007 waren sie abgebaut worden und fehlten, als unerwartet Hunderttausende nach Deutschland kamen. 

Noch einmal Willkommenskultur?

Und auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, sagt Kleist, habe „dazugelernt – die Frage ist aber, ob das die richtigen Lehren sind“. Die Verfahren seien effizienter geworden, aber ihre Qualität habe sich nicht verbessert, weshalb überlastete Verwaltungsgericht viele Fälle überprüfen müssten.

Eine große Unbekannte werde die Stimmung im Land, falls wieder mehr Flüchtlinge kämen. Einmal auf seiten von Regierung und Verwaltung: „Vor vier Jahren war es offensichtlich, dass die Bundesregierung die Menschen aufnehmen wollte“. Aber auch das ehrenamtliche Engagement sei unklar. „Das gibt es weiter, auch wenn die Ehrenamtlichen nicht mehr so präsent sind. Aber so wie ich 2014/15 nicht erwartet hätte, dass so viel Schwung da ist, wüsste ich jetzt nicht zu sagen, wie es aussähe, wenn noch einmal eine große Zahl Geflüchteter käme.“

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