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Die Standarte des Bundespräsidenten weht über dem Schloss Bellevue in Berlin.

© dpa

Vor der Bundesversammlung: Der Präsident ist Hüter von Maß und Mitte

An diesem Sonntag wird der nächste Bundespräsident gewählt. Fest steht: Ein Mann, wie in allen Jahrzehnten zuvor. Auf den eine Anstrengung ohnegleichen zukommt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Von der Tagespolitik so weit entfernt ist er gar nicht, der Bundespräsident. Das meint man nur, weil es sich so eingebürgert hat. Die Rolle des Präsidenten erschien immer angelegt wie die eines Ersatz-Königs. Nur kann er – er, weil das Amt in all den Jahrzehnten nie eine Frau bekleidet hat – aber stets als Ratgeber wirken und so auf die Politik einwirken. Wie oft sich das Staatsoberhaupt mit denen trifft, die Staat machen!

Allerdings erfährt aus gutem Grund nicht jeder davon. Was den Treffen ihren Wert erhält. Denn Ratschläge, sagte der vormalige Bundespräsident Gustav Heinemann, sind immer auch Schläge. Heinemann, der bis heute nicht allein Sozialdemokraten als das Beispiel für einen Bürgerpräsidenten gilt.

Hinzu kommt: Der Weg in Berlin ist nicht weit. Weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn. Der Weg vom Schloss Bellevue an der Spree entlang führt fast direkt zum Kanzleramt und zum Bundestag. Den könnte man sogar unentdeckt bewältigen. Nein, auch das Grundgesetz lässt Raum für Bewegung. Nicht gerade bei operativer Tagespolitik, aber doch bei tagespolitischen Stellungnahmen. Die sind dem Staatsoberhaupt nicht verboten. Nur galt dem amtierenden meist Zurückhaltung als geboten.

Das Amt des Bundespräsidenten ist so gesehen in jeglicher Hinsicht repräsentativ. Was geboten ist, unterliegt auch hier dem Wandel der Zeiten. Der Präsident hat das Recht und die Pflicht zum politischen Handeln; wie er handelt, über seine Aufgaben als „Staatsnotar“ hinaus, entscheidet er grundsätzlich selbst. Das Grundgesetz gewährt ihm Autonomie im Sinne einer Unabhängigkeit in der Veränderung der politischen Kultur. Den Gestaltungsspielraum für Wandel eröffnet sich der Präsident auch über seine Meinungsäußerungen.

Der Bundespräsident vertritt den Bund völkerrechtlich, formal und protokollarisch. Ja, er kann keine Dekrete gegen den Willen der Regierung erlassen, kann nicht an der Regierung vorbei regieren und eigene politische Inhalte durchsetzen. Andererseits ist seine Aufgabe nicht bloß auf das Absolvieren von Staatsdîners und das Fahren in einer Limousine mit Stander beschränkt. Er besitzt wichtige „Reservevollmachten“.

Besonders für Krisenzeiten ist das staatspolitisch und machtpolitisch bedeutsam. Das gilt beim Gesetzgebungsnotstand, bei der Wahl des Bundeskanzlers, bei der Entscheidungsgewalt über die Auflösung des Bundestags (wir erinnern uns: im Fall einer verlorenen Vertrauensfrage), bei der Bildung einer Minderheitsregierung. Und wegen der Tatsache, dass ein Gesetz überhaupt erst nach der Unterschrift des Präsidenten in Kraft tritt.

Für den neuen Bundespräsidenten wäre Rau ein guter Ratgeber

Jeder Bundespräsident steht damit nicht nur für sich und seinen Anspruch. Von Amts wegen verkörpert das Staatsoberhaupt die „Einheit des Staates“. In diesem Begriff verbirgt sich die große, die überwölbende Aufgabe. Sie bedeutet eine Anstrengung ohnegleichen, zumal sie im gesellschaftlichen Sinn politisch ist. Der Präsident als der Hüter von Maß und Mitte, als die neutrale Kraft – aber auch genau das: eine Kraft. Die sinnstiftend und integrativ wirken soll. Roman Herzog, der ehedem Bundespräsident war und davor Verfassungsgerichtspräsident, bezeichnete das Amt als „Integrationsagentur des Staates“. Welch ein Anspruch.

Fünf Jahre dauert eine Amtszeit, gewählt wird von der Bundesversammlung, der erweiterten Volksvertretung, deren Mitglieder im Bundestag gerade schon probegesessen haben. Eine Wiederwahl ist möglich. Wohlgemerkt eine. Das hat seinen Grund. Wird der Präsident auch von einem Team im Bundespräsidialamt unterstützt – geprägt wird es von seinem Ansehen, seiner Ambition, seiner Kraft. Die tägliche Herausforderung, integrierend zu wirken bis in den hintersten Winkel, unterliegt auch dem Wandel unserer Zeit. Und die sagt gerade: Die Herausforderung wächst noch einmal.

Die Bürger über die Distanz hinweg zu berühren und sie zugleich im weitesten Sinn zum Gebrauch der Demokratie zu führen – das fordert den Amtsinhaber als ganzen Menschen. Der Sozialdemokrat Johannes Rau, wie sein Vorbild Heinemann ein Bürgerpräsident und immer ein Menschenfischer, konnte beredt davon Zeugnis geben. Er wäre dem kommenden Bundespräsidenten gewiss ein guter Ratgeber. Vielleicht liest der Raus zu Unrecht weithin vergessene Reden noch einmal nach.

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