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Warum sind die Glühweinbuden noch nicht geschlossen? Massen drängen sich am Tauentzien.

© REUTERS

Vor dem großen Lockdown: Deutschland steht wieder am Anfang

Überfüllte Krankenhäuser, steigende Infektionszahlen: Das Coronavirus fordert immer mehr Tote. Wie schnell und wie streng muss der Lockdown jetzt sein? Fragen und Antworten zum Thema.

Die Lage ist dramatisch. Die Intensivstationen vieler Krankenhäuser stehen vor dem Aufnahmestopp, die Leitung der Berliner Vivantes-Kliniken warnt vor einem „Kontrollverlust“. Überall in Deutschland drängen Ärzte und Klinikleiter auf einen „harten Lockdown“.

Zuletzt appellierte der Chef der Berliner Charité, Heyo Kroemer, die Politik möge schnellstmöglich die Maßnahmen zum Infektionsschutz verschärfen.

In der ersten Welle lobten Angela Merkel und die Ministerpräsidenten, dass Deutschland viel besser als andere Staaten durch die Krise gekommen sei. Inzwischen nennt selbst US-Präsident Donald Trump Deutschland ein schlechtes Vorbild. Der britische „Independent“ schreibt, wenn auch überspitzt: „Merkel fordert die Deutschen auf, nicht ihre Großeltern an Weihnachten zu töten.“

Angesichts steigender Infektionszahlen verschärfen mehrere Ministerpräsidenten die Corona-Maßnahmen und fordern einen bundesweiten Lockdown noch vor Weihnachten. Chefärzte in der Hauptstadtregion erwarten nicht, dass sich die Lage bis Weihnachten entspannt – selbst dann nicht, wenn ab den nächsten Tagen strengere Regeln gälten.

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Was soll die Lage jetzt retten?

Die Strategie in der zweiten Welle gilt als gescheitert, der Ruf als Vorbild ist perdú. Kanzlerin Angela Merkel hatte im Herbst vor täglich 19 200 Neuinfektionen bis Weihnachten gewarnt. Das war für viele damals alarmistisch. Heute, nach sechs Wochen Lockdown Light mit geschlossenen Kneipen, Restaurants, Fitnessstudios und Kultureinrichtungen, liegt die tatsächliche Zahl bei fast 30 000.

Hinzu kommen mehr als 500 Tote – jeden Tag. Es ist leicht zu errechnen, was das für die bevorstehenden Festtage bedeutet. Nach den Angaben des Robert-Koch-Instituts dauert es ab der Infektion durchschnittlich fünf bis sechs Tage, ehe die Krankheit Covid-19 ausbricht.

In den schwersten nicht mehr heilbaren Fällen dauert es danach noch einmal elf bis 18 Tage bis zum Tod. Steigen die Zahlen weiter wie bisher, sind an Weihnachten oder kurz danach 700 bis 800 Tote pro Tag zu befürchten.

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„Wenn wir jetzt zu viele Kontakte vor Weihnachten haben und anschließend es das letzte Weihnachten mit den Großeltern war, dann werden wir etwas versäumt haben, das sollten wir nicht tun“, hatte die Kanzlerin zuletzt betont.

Also weniger Kontakte, gerade im Vorfeld des Festes.

Dass weiteres Zögern und Zaudern nicht geht, wird jetzt auch immer mehr Ministerpräsidenten klar. Der Plan von möglichen Lockerungen zu Weihnachten hat ein gefährliches Signal an die ohnehin coronamüden Deutschen gesandt.

Das zeigt sich zum Beispiel allabendlich vor den Glühweinständen in den Innenstädten. Am Sonntag, 10 Uhr, soll es nun einen weiteren Bund-Länder-Gipfel geben, der verschärfte Einschnitte in das öffentliche und private Leben bringen könnte. Früher war die Videoschalte nicht möglich, Merkel musste sich beim EU-Gipfel ums Klima und die Finanzen kümmern.

Die zentrale Frage bei ihrem Gespräch mit den Länderchefs lautet nun: Ab wann sollen die Regelungen gelten? Werden Geschäfte schon ab Montag schließen müssen oder ab Mittwoch – oder vielleicht erst nach dem 4. Advent (20.12.)?

Demonstranten ohne Masken. Polizei sperrt den Weg von Gegnern der Corona-Politik im Zentrum von Leipzig.
Demonstranten ohne Masken. Polizei sperrt den Weg von Gegnern der Corona-Politik im Zentrum von Leipzig.

© dpa

Den schnellen Lockdown wollen viele Länderchefs, weil sie sonst einen Weihnachts-„Schlussverkauf“ und damit weitere Ansteckungen fürchten, weil viele noch einmal in die Innenstädte strömen. Andauern soll der Lockdown auf jeden Fall bis zum 10. Januar.

Schon vor dem Gespräch haben einige Ministerpräsidenten starke Pflöcke eingeschlagen. Sollte es im Kreis der 16 Länder keine Einigung geben, dann wollen Bayern und Baden-Württemberg bei den Maßnahmen vorangehen. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) fordert schnelle Schließungen von Geschäften, Schulen und Kitas. Der Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit ist komplett verboten.

In Baden-Württemberg gelten bereits ab Samstag Ausgangsbeschränkungen. Beide Länder weisen im Vergleich besonders hohe Infektionszahlen auf. Aber auch Schleswig-Holstein verbietet den Alkoholausschank in der Öffentlichkeit. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) will, dass ab Montag sämtliche Läden, mit Ausnahme von Geschäften des täglichen Bedarfs, geschlossen werden.

Was ist mit den Schulen?

Sachsen – mit dem bundesweiten Rekordwert von 313 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner in sieben Tagen – macht die Schulen ab Montag dicht. In NRW wird die Präsenzpflicht ebenfalls ab Montag aufgehoben. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) will Schließungen erst ab dem 16. Dezember. Merkels Minimalziel ist es, die Schulen ab 16. 12. bundesweit zu schließen.

Damit soll genug Zeit für häusliche Quarantäne und Coronatests möglich sein, damit nicht unwissentlich infizierte Kinder Oma und Opa an den Festtagen infizieren. Allerdings fehlt eine Vorlage der Kultusministerkonferenz (KMK) für bundesweit einheitliche Regelungen: Bei der jüngsten Sitzung fasste die KMK zu dem Thema keinen Beschluss.

Prinzipiell lehnen die Minister Schließungen weiter ab, die Schulen würden aber ihren Beitrag zu einem harten Lockdown leisten, erklärte KMK-Präsidentin Stefanie Hubig (SPD) am Freitag. Voraussetzung seien Beschränkungen in anderen Bereichen wie dem Handel. Die Weihnachtsferien wollen die Minister aber nicht verlängern.

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Vor- und nachgelagert zu den Ferien sei aber Fernunterricht denkbar, sagt Hubig – für ein oder zwei Wochen, vielleicht könnte sich eine Phase des Wechselunterrichts anschließen. Den hat Bayern flächendeckend ab der achten Klasse eingeführt.

Dass Schulschließungen trotz gegenteiliger Beteuerungen der KMK etwas bewirken könnten, zeigen zwei noch nicht begutachtete in Fachjournalen veröffentlichte Studien. Forschende vom Karlsruher Institut für Technologie haben die Wirksamkeit verschiedener Maßnahmen in neun europäischen Ländern und 28 US-Bundesstaaten untersucht.

Besucher stehen am Samstag des zweiten Adventswochenendes vor einer Weihnachtsbude am Breitscheidplatz.
Besucher stehen am Samstag des zweiten Adventswochenendes vor einer Weihnachtsbude am Breitscheidplatz.

© dpa

Ergebnis: Gerade frühzeitige Schulschließungen können die Trendwende bei den Fallzahlen ausmachen. Ein Team der Uni Utrecht berichtet derweil, dass die Wirksamkeit von Kontaktbeschränkungen in Schulen von Maßnahmen außerhalb der Schulen abhängt. Wenn diese ausgeschöpft sind oder bewusst nicht ergriffen werden, obwohl die Ansteckungsrate weiter hoch ist, könnten Schulschließungen das Infektionsgeschehen deutlich bremsen, vor allem unter älteren Kindern.

Gibt es Staatshilfen für den Handel?

Der Handelsverband Deutschland (HDE) hält Ladenschließungen für „nicht verhältnismäßig“. In einem Brief ans Kanzleramt heißt es: „Wir befürchten in einen perspektivlosen Zustand mit einem wochen- oder monatelangen Lockdown zu geraten, den der überwiegende Teil des innerstädtischen Einzelhandels nicht überleben wird.“

Bei Ladenschließungen fordert der HDE weitere Finanzhilfen. „Für den Monat Dezember sollten dabei dieselben Konditionen wie für die Gastronomie gelten.“ Die vom derzeitigen Lockdown betroffenen Branchen sollen bis zu 75 Prozent des Vorjahresumsatzes erstattet bekommen.

Das Finanzministerium will das aber verhindern, schließlich macht der Handel eine Milliarde Umsatz am Tag, eine Eckkneipe sei nicht mit einem Kaufhaus zu vergleichen. Daher soll es für diese Branche Kompensationen geben, die sich an den Fixkosten nicht am Umsatz orientieren, als Instrument ist die Überbrückungshilfe III im Gespräch, mit Hilfen von bisher bis zu 200 000 Euro im Monat – dieser Obergrenze könnte aufgestockt werden.

Was macht es so kompliziert?

Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte im September, dank Masken und Hygienekonzepte werde es keine Ladenschließungen mehr geben. Ministerpräsidenten wie Sachsens Michael Kretschmer (CDU), die Warnungen der Wissenschaftler im Oktober als Hysterie abtaten, sagen nun: „Wir haben dieses Virus unterschätzt – alle miteinander.“ Für Merkel und ihre Leute gilt das nicht – doch ist es ihnen nicht gelungen, mit den Ländern eine gemeinsame Linie aufrechtzuerhalten.

Auch die Kultusminister zeigen, wie die Politik durch die Pandemie eiert: Bis heute gibt es weder auf Länder-, noch auf Bundesebene verbindliche Stufenpläne, ab welchen Inzidenzwerten etwa in den Wechselunterricht gegangen wird.

Hinzu kommen viele Versäumnisse, etwa bei der Versorgung von stark gefährdeten Personen mit FFP2-Masken und die sich ständig ändernden Regeln. All das hat zu einer großen Verwirrung der Bürger geführt. Infolge ist die Stimmung schlecht: In Länderkreisen ist man es leid, an den Pranger gestellt zu werden.

Dort wird nicht verstanden, dass Merkel nach der jüngsten MPK-Schalte erklärte, der Teil-Lockdown werde bis 10. Januar verlängert, statt lieber abzuwarten, ob das reicht. Und sie sagte auch: Man müsse sich wohl erst wieder am 4. Januar erneut beraten.

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