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Eine pro-europäische Demonstrantin trägt vor dem britischen Parlament eine EU-Mütze mit britischer Fahne.

© Jonathan Brady/PA Wire/dpa

Vor dem EU-Austritt Großbritanniens: Haltet die Uhr an!

Von wegen Brexit: Warum sich EU und Briten gemeinsam in einer neuen Weltordnung behaupten müssen. Ein Kommentar.

Wir leben in dramatischen Zeiten. Die USA verlassen den Westen und ihre Rolle als globale Ordnungsmacht und nehmen keinerlei Rücksicht mehr auf ihre Verbündeten in Europa. Nicht einmal die Beistandsverpflichtung der Nato kann noch als gesichert gelten. Das entstehende Vakuum wird gefüllt vor allem von China, aber auch von Russland und der Türkei. Handelskonflikte bedrohen die Weltwirtschaft und damit vor allem die Erfolgsgrundlage der Exportnation Deutschland. Die Digitalisierung stellt alle traditionellen Wertschöpfungsmodelle in unserem Land und in Europa auf den Kopf. Und während andere die Mobilität und das Auto der Zukunft neu erfinden, lamentiert Deutschland über die Fehler seiner Automobilindustrie in der Vergangenheit und beschäftigt die knappe Ingenieursressource seiner wichtigsten Wohlstandssäule mit den Motoren der Vergangenheit. Das alles kann man wohl als die Vorbereitung eines perfekten Sturms bezeichnen, der uns noch nicht so recht aufzufallen scheint, weil es im Zentrum des Orkans ja immer still ist.

Verschiebung der Achsen

Das ist die Lage, in die hinein jetzt der Brexit droht, der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Ob hart oder weich, der Brexit wird alle schwächen. Großbritannien wird zweifellos wirtschaftlich in ganz erhebliche Turbulenzen geraten. Aber zur Wahrheit gehört auch: das Empire hat größere Krisen überstanden und wird diese Wirtschaftskrise früher oder später bewältigen. Ob Europa den Austritt des Vereinigten Königreichs übersteht, kann allerdings keinesfalls als sicher gelten. Natürlich wird die EU nicht auseinanderbrechen. Und natürlich kann auch die EU die wirtschaftlichen Nachteile des Brexit überstehen. Europas Rolle in der Welt aber wird in einer Weise beschädigt werden, wie wir es uns bislang noch nicht vorstellen können. Einen kleinen Vorgeschmack bekamen wir gerade in Washington, wo die US-Regierung die Botschaft der EU in ihrem Rang auf einen der hinteren Plätze abwerten will. Ein Fingerzeig für das Ende der Besonderheit der transatlantischen Beziehungen. Das alles begann übrigens lange vor Trump. Es war der Präsident Barack Obama, der von den USA als pazifischer Nation sprach. Alle seine Vorgänger bezeichneten ihr Land als eine „transatlantische Nation“.

Die politischen und wirtschaftlichen Machtachsen verschieben sich vom Atlantik in den Pazifik. Wo wir heute noch in einer Welt ohne globale Ordnungsmacht leben, in einer „G-0-Welt“ sozusagen, wird es morgen eine G-2-Welt mit den Antipoden USA und China sein. Das werden auch die Briten nach einem Ausstieg aus der EU merken. Wir Europäer – die EU und die Briten gemeinsam – stehen in Wahrheit vor der Frage, ob und wie wir unsere Souveränität zwischen diesen neuen Machtachsen erhalten? Wie schaffen wir Europäer es, dass wir so leben können, wie wir WOLLEN, und nicht nur leben müssen, wie es andere für uns als angemessen erachten? Es geht um europäische Souveränität, weil die Mitgliedsstaaten allein – selbst das große Deutschland – in dieser Welt von morgen überhaupt nichts mehr ausrichten könnten.

Strategisch und militärisch irrelevant

Schon heute hat Europa in der Welt nicht viel zu sagen. Wir sind mit Ausnahme der Klimapolitik in allen großen weltpolitischen Konflikten Zuschauer: bei dem drohenden atomaren Wettrüsten ebenso wie in den kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten, in Syrien, im Irak oder im Jemen. Selbst die Rebellen gegen Assad, die doch eigentlich vorgeben, für die Werte von Demokratie und Freiheit zu kämpfen, wenden sich beim Rückzug der USA aus Syrien nicht an uns Europäer, sondern an Moskau und die Türkei. Weil beide die dort einzig verbleibenden Machtprojektionen für die Region darstellen. Europa gilt als reich, aber politisch, strategisch und allemal militärisch als irrelevant. Wenn die Briten die EU verlassen, wird der Blick auf uns Europäer noch abschätziger ausfallen. Wer nicht einmal den eigenen Laden zusammenhalten kann, wird andere nicht von seiner Sicht auf die Welt überzeugen.

Es wird uns nichts nützen, unsere europäischen Werte in der Welt hoch zu halten, wenn der Rest der Welt den Eindruck hat, dass Europa aufgrund fehlender Einheit und Geschlossenheit nicht mal gemeinsame Interessen formulieren kann. Und mit UK verlässt nicht irgend jemand die EU. Hier geht ein Land, mit enormem internationalem Ansehen, mit einem in Jahrhunderten entwickelten internationalen diplomatischen Netzwerk, ein wirtschaftliches Powerhaus der EU – und eine Nuklearmacht dazu. Die Briten werden uns politisch und strategisch mehr fehlen als wirtschaftlich. Und kulturell ebenso, denn eine EU ohne die Briten, aber demnächst mit neuen Mitgliedsstaaten wie Serbien, Albanien oder Kosovo, wäre nicht nur zahlenmäßig eine andere.

Mehr Blockade geht nicht

Das alles wären Gründe, in den letzten Wochen bis März und vielleicht sogar darüber hinaus überall in Europa – und nicht nur in Großbritannien - nach Kompromissen zu suchen. Es stimmt: Das erscheint fast unmöglich, weil sich die gegenseitigen Bedingungen aller Beteiligten ausschließen. Der Labour-Opposition ist Europa mehrheitlich weit weniger wichtig als der Sturz der konservativen Regierungschefin Theresa May. Die Brexit-Befürworter auf der Seite der Konservativen (und leider auch bei Labour) müssen gar nichts tun, dann kommt der harte Brexit Ende März ganz automatisch und sie haben sich durch Verweigerung am Ende durchgesetzt. Die mögliche Mehrheit für den jetzt zwischen der EU und den Briten ausgehandelten „weichen“ Austritt kommt nicht zustande, weil selbst die Gutwilligen nicht akzeptieren können, dass sie sich nach diesem „soft Brexit“ in die völlige Abhängigkeit der EU bei den dann beginnenden Verhandlungen über den Verbleib im Binnenmarkt begeben.

Denn die Auffanglösung – der sogenannte Backstop – im Falle des Scheiterns dieser Verhandlungen, führt zur wirtschaftlichen Trennung Nordirlands vom Vereinigten Königreich. Die Grenze zu Europa verliefe dann in der Irischen See – und zwar auf Dauer. Denn der Vertragsentwurf zwischen der EU und UK sieht für diesen „Backstop“ keine Kündigungsmöglichkeit und keine Befristung vor. Die Briten stünden dann schlechter da als vor dem Brexit und wären auf ewig – so die Lesart in London – Geiseln der EU. Das ist für das britische Unterhaus unannehmbar und zwar auch für die Gutwilligen dort. Denn es wird als Versuch gewertet, über diesen Umweg Irland und Nordirland zu vereinigen und damit Großbritannien auch territorial zu entzweien. Was aber die Briten für unannehmbar halten, ist für die Iren Voraussetzung für ihre Zustimmung: keine zeitliche Befristung für den „Backstop“. Mehr Blockade geht nicht.

Was also tun? Schulterzucken und darauf hinweisen, dass die Briten sich durch das törichte und arrogante Handeln ihrer politischen Klasse selbst in diese Lage gebracht haben, ist zwar richtig, hilft uns aber nicht. Denn wie beschrieben, sind die Leidtragenden beileibe nicht die Briten, sondern wir alle in Europa. Denn ein Europa ohne die Briten wird aus der G-2-Welt keine G-3-Welt machen, in der wir Europäer unser Schicksal selbst bestimmen. Deshalb kann der Rat nur sein, alle Hebel zu nutzen, um doch noch zu einer Lösung zu kommen, die das Vereinigte Königreich so eng wie möglich an der EU hält. Der vorgelegte Vertrag eines „weichen Brexit“ schafft dafür zumindest die Möglichkeit.

Es geht um viel zu viel

Um ihm zu einer Mehrheit zu verhelfen, sollten alle anderen in Europa sagen: Was in London geschieht, betrifft uns alle, und darum mischen wir uns auch ein. Es ist in erster Linie eine politische Entscheidung der Briten, aber sie hat weitreichende Folgen für alle anderen in Europa. Die europäischen Sozialdemokraten müssen mit der britischen Labour-Opposition und ihrem Vorsitzenden Jeremy Corbyn reden. Und die Botschaft der europäischen Sozialdemokraten muss sein: erst das Land und Europa, dann die Partei. Die deutschen Konservativen und Liberalen müssen zusammen mit Frankreichs Präsidenten Macron auf Irland zugehen, denn dort wird man auch rational überlegen müssen, ob eigentlich ein harter Brexit nicht genau das zur Folge haben kann, was der „Backstop“ vermeiden soll: eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland und damit das Wiederaufflammen der Gewalt auf der Insel. Und wir alle in Europa müssen uns fragen: Gibt es nicht doch eine Möglichkeit, den Briten mehr Sicherheit für das Zustandekommen eines neuen Abkommens zwischen ihnen und der EU zu geben, als uns das bisher gelungen ist? Gibt es andere Varianten, bei denen die Sicherheit in Großbritannien wächst, dass es wirklich zu einem für beide Seiten akzeptablen Folgeabkommen kommt und niemand auf Dauer in Geiselhaft geraten wird? Können wir den Briten erneut bei der Personenfreizügigkeit innerhalb der EU entgegenkommen? Denn nicht nur Briten, sondern auch deutsche Oberbürgermeister würden sich wünschen, es gäbe mehr Instrumente, um die ungerechtfertigte Zuwanderung in Sozialsysteme besser zu verhindern. Personenfreizügigkeit heißt ja nicht, dass es kein Management dieser Freizügigkeit geben darf.

Und selbst wenn die Abstimmung kommende Woche im britischen Unterhaus wie zu erwarten keine Mehrheit bringt, heißt das nicht, dass bis Ende März nicht weiterverhandelt werden könnte. Selbst eine Verlängerung der Entscheidungsfrist sollte zumindest aus Sicht der Europäischen Union möglich sein, wenn die Briten mehr Zeit brauchen. Es wäre nicht das erste Mal, dass bei internationalen Verhandlungen die Uhr „angehalten“ wird. Auch das Datum der Europawahl darf dafür kein unüberwindliches Hindernis sein. Es geht einfach um viel zu viel. Die Zeit der wichtigen technischen Beratungen ist vorüber. Sie sind erfolgreich gelungen und allen Beteiligten ist für Ihre Mühe und Geduld zu danken. Jetzt aber ist die Stunde der Politik und der politischen Fantasie. Die hat eben erst begonnen. Alle sollten sie nutzen. Auch dann, wenn die Aussichten auf Erfolg zugegeben überschaubar sind.

Sigmar Gabriel ist Abgeordneter des Bundestags und Tagesspiegel-Autor. Er war Außenminister und SPD-Vorsitzender.

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