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Die Uhr tickt. Der EU-Gipfel als letzte Chance, Bewegung in die blockierten Brexit-Gespräche zu bringen.

© dpa

Vor dem Brexit-Gipfel: Die EU muss Großbritannien entgegenkommen

Der britische Premier Boris Johnson ist eine Zumutung. Aber das Ziel muss sein, Schaden von Europa abzuwenden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Muss das wirklich sein – den Schaden, der durch Corona über Europa gekommen ist, mutwillig durch einen ungeregelten Brexit zu verschlimmern? Der EU-Gipfel am Donnerstag ist die nun wirklich letzte Chance, das zu verhindern: durch Vorschläge, wie man die Blockade in den Verhandlungen mit London über die künftigen Beziehungen überwinden kann. Reichen die Kräfte und der gute Wille, oder sind die aufgezehrt nach all den Enttäuschungen und dem Übelnehmen in den vier Jahren seit dem Austrittsvotum?
In London, Brüssel, Parisund anderen Hauptstädten werden die Kräfte stärker, die sich achselzuckend abwenden. „Fort mit Schaden“, ist ihre Devise. Sie wollen Corona als Deckmantel benutzen und die ökonomischen Folgen, die ein ungeregelter Brexit für Briten und Kontinentaleuropäer bedeuten würde, in die Rechnung der Corona-Rezession einpreisen. Ihr Interesse ist, nicht politisch haftbar gemacht zu werden, wenn keine Einigung gelingt.

Dem sollte die Bundesregierung entgegentreten – mit der umgekehrten Logik. Weil Europa bereits schmerzlich unter den Folgen der Pandemie leidet, wäre es unverantwortlich, vermeidbare zusätzliche Belastungen heraufzubeschwören.

Überholte Logik: Dem Königreich keinen Vorteil gönnen

Die Perspektive wechseln und umdenken: Das kann befreiend und hilfreich wirken. Die EU hat sich zu sehr festgelegt auf eine Logik, die zu Beginn der Gespräche verständlich und vielleicht sogar zwingend war: Die Briten dürfen nicht die Vorteile der Mitgliedschaft ohne die Pflichten haben. Wenn es so aussieht, als sei Austritt der bessere Deal, könnte das andere zum Nachahmen motivieren.

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Also wollte die EU das Königreich zwingen, die vier Grundfreiheiten (freier Verkehr von Personen, Gütern, Kapital und Dienstleistungen) sowie die Standards der EU beizubehalten. Wo immer London mehr Souveränität für sich verlangte, forderten die EU-Unterhändler eine Gegenleistung.

Heute ist klar: Es gibt keine Nachahmer. Der Brexit wirkt nicht attraktiv, schon gar nicht wirtschaftlich. Die EU könnte flexibler sein, ohne Schaden für ihren Zusammenhalt zu riskieren.

Die Briten behandeln, als wären sie nie in der EU gewesen

Umdenken hieße, einen anderen Maßstab an die Verhandlungen anzulegen. Welche Inhalte würde die EU anstreben, wenn sie Großbritannien als Partner behandelte, der nie in der EU war und mit dem sie ein Abkommen über Freihandel und enge Kooperation schließen möchte, wie sie das, zum Beispiel, mit Kanada, Tunesien oder der Ukraine getan hat? Sie würde nicht EU-Standards als unverhandelbar hinstellen, sondern die jeweiligen Interessen in eine Balance bringen und auf nationale Eigenheiten Rücksicht nehmen.

Ein Gutteil der Streitpunkte, die eine Einigung mit London blockieren, hätte dann nicht mehr den prinzipiellen Charakter. Muss Großbritannien die Umwelt- und Sozialstandards der EU eins zu eins beibehalten? Kann die EU da nicht mehr Flexibilität zugestehen?

London möchte ein anderes Business-Modell. Warum nicht?

Es ist das erklärte Ziel der Briten, mit einem anderen Businessmodell als dem der EU in den internationalen Wettbewerb zu gehen. Weniger Handel mit Waren, dafür mehr mit Dienstleistungen. Das ist legitim, das sollte man ihnen zugestehen.

Gewiss, Großbritannien ist, anders als Kanada, ein direkter Nachbar der EU und weit wettbewerbsfähiger als Tunesien oder die Ukraine. Ein unfairer Wettbewerb durch Dumping-Standards darf nicht entstehen. Doch zwischen diesem Extrem und dem anderen – fast alles bleibt wie in der EU – besteht Spielraum.

Johnson entgegenkommen? Wichtiger ist die gemeinsame Zukunft

Da ist freilich noch Boris Johnson. Soll man ihm entgegenkommen, obwohl er wie ein Hasardeur mit dem ungeregelten Brexit droht und selbst unterschriebene Abmachungen wie die Nordirland-Regelung wieder infrage stellt? Warum mit jemandem einen Vertrag schließen, der bereits beim Aushandeln mit Vertragsbruch droht? Ja, er ist eine Zumutung. Aber soll die EU sich eher selbst Schaden zufügen, als eine Lösung zu suchen, um sagen zu können: Wir haben uns nicht erpressen lassen?

Es geht nicht um Sieger und Besiegte. Auch das wäre eine falsche Perspektive. Es geht darum, dass Europa und Großbritannien eine gemeinsame Zukunft gewinnen.

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