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Wem wird geholfen, wenn der Bedarf größer ist als die Kapazität?

© Alvaro Barrientos/AP/dpa

Vor Corona sind alle gleich: In einer Triage geht Humanität vor Effizienz

Die Schwächsten brauchen den stärksten Schutz: Karlsruhe hatte eine revolutionäre Entscheidung gefällt. Sie umzusetzen, wird schwierig. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Kann in einer Triage ein striktes Diskriminierungsverbot befolgt werden, ohne die Zahl der Toten zu vergrößern? Falls nein: Sollte die höhere Zahl der Toten im Namen der Humanität und geleitet vom Grundsatz der Gleichwertigkeit allen menschlichen Lebens in Kauf genommen werden?

Das sind Fragen von existenzieller und gesellschaftlich relevanter Bedeutung. Ihre ethischen Implikationen sind durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von Ende Dezember zugespitzt worden. Denn entschärft wurde der Konflikt zwischen divergierenden moralischen Prinzipien durch den Beschluss nicht.

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In einer Triage muss entschieden werden, welcher Patient intensivmedizinisch behandelt wird und welcher nicht, weil die Zahl der Schwerkranken die Kapazitäten der Krankenhäuser übersteigt. Die Ärzte müssen priorisieren, das heißt, sie müssen versuchen, mit begrenzten Ressourcen möglichst viele Patienten zu versorgen.

Entschieden werden darf allein nach der „aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ des Patienten. Je höher diese Wahrscheinlichkeit ist, desto besser kann der Anspruch auf ein knappes Gut begründet werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht bekräftigt. Außerdem hat es betont, dass niemand wegen einer Behinderung oder Vorerkrankung benachteiligt werden darf.

Achtung vor der Unantastbarkeit der Menschenwürde

Aufgrund der Achtung vor der Unantastbarkeit der Menschenwürde dürfe „Leben nicht gegen Leben abgewogen werden“, heißt es in dem Beschluss. Der Gesetzgeber wurde aufgefordert, „wirksame Vorkehrungen zu treffen“, damit behinderte Menschen in einer Triage vor Diskriminierung geschützt sind.

Die Richter in Karlsruhe hatten vor allem über die Schutzrechte behinderter Menschen zu befinden. Die Bundesärztekammer und die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) formulieren in ihren Richtlinien für den Fall eines Kapazitätsmangels ein weitaus umfassenderes Diskriminierungsverbot.

Die Bundesärztekammer verbietet in ihrer Orientierungshilfe während einer Triage Benachteiligungen „aufgrund von Alter, Geschlecht, Nationalität, Behinderung oder sozialem Status“. Auch medizinisch geprägte Kategorisierungen wie Demenz und andere chronische Erkrankungen dürften nicht zu einem Ausschluss von erforderlichen Behandlungen führen.

Alter, Gewicht, Vorerkrankungen, Behinderung: Das alles darf keine Rolle spielen

In den Empfehlungen der Divi wird postuliert, dass das Gleichheitsgebot eine Priorisierung „aufgrund des kalendarischen Alters, aufgrund sozialer Merkmale oder aufgrund bestimmter Grunderkrankungen oder Behinderungen und aufgrund des SARS-CoV-2-Impfstatus“ untersage. Unterstützt wird die Richtlinie von sechs weiteren Fachgesellschaften sowie der Akademie für Ethik in der Medizin.

Doch wie soll die individuelle Überlebenswahrscheinlichkeit eines mit Corona infizierten Patienten beurteilt werden, wenn alle potenziell diskriminierenden Faktoren ausgeblendet werden müssen? Wenn weder das Alter noch das Gewicht, weder eine Vorerkrankung noch eine Behinderung, weder der Impfstatus noch eine chronische Krankheit berücksichtigt werden dürfen.

Solche Faktoren – jede für sich und in der Summe – wirken sich oft unmittelbar auf die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Menschen aus. Ein Ungeimpfter etwa, der intensivmedizinisch behandelt werden muss, hat in aller Regel eine schlechtere Überlebenschance als ein Geimpfter. Kann ein Arzt in der medizinischen Gesamtschau des Patienten davon abstrahieren?

Ein „Einfallstor“ für Diskriminierung

Er muss, sagt das Bundesverfassungsgericht deutlich und kritisiert in diesem Zusammenhang ungewöhnlich scharf eine vermeintliche Zweideutigkeit in den Empfehlungen der Divi. Darin würde zwar einerseits eine Priorisierung aufgrund von Grunderkrankungen oder Behinderungen als unzulässig charakterisiert. Andererseits aber würden „schwere andere Erkrankungen im Sinne von Komorbiditäten und die Gebrechlichkeit als negative Indikatoren für die Erfolgsaussichten der intensivmedizinischen Behandlung bezeichnet“. Das aber könne, nach Auffassung der Richter des Ersten Senats, ein „Einfallstor“ für Diskriminierung sein.

Ein Symbol auf der Intensivstation für Corona-Patienten am Sana Klinikum in Offenbach (Hessen) weist auf den Covid-Bereich hin. Auf der Corona-Intensivstation sind momentan fast alle Betten belegt.
Ein Symbol auf der Intensivstation für Corona-Patienten am Sana Klinikum in Offenbach (Hessen) weist auf den Covid-Bereich hin. Auf der Corona-Intensivstation sind momentan fast alle Betten belegt.

© Sebastian Gollnow/dpa

Mit ihrer Kritik an den Empfehlungen der Divi machen die Richter klar, dass sie jede Art von Einbeziehung möglicherweise diskriminierender Faktoren zur Beurteilung der direkten Überlebenswahrscheinlichkeit eines schwer Erkrankten für unzulässig halten. Das könnte mit dem bislang verfolgten Ziel kollidieren, in einer Triage die meisten Menschenleben zu retten.

Nicht: rette sich, wer kann, sondern: Frauen und Kinder zuerst

In der Gesamtbilanz könnte folglich der Preis für eine strikte Beachtung des Diskriminierungsverbotes sein, dass Menschen intensivmedizinisch behandelt werden, deren Überlebenswahrscheinlichkeit unter Berücksichtigung diskriminierender Faktoren gering wäre. Das nicht nur zu akzeptieren, sondern auch als wünschenswert zu begrüßen, verlangt von vielen Medizinern ein radikales Umdenken.

Oliver Tolmein, der den Fall vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten hat, sagt: „Wenn ein Schiff untergeht, heißt die Devise auch nicht: rette sich, wer kann“, sondern: Frauen und Kinder zuerst. „Das sichert nicht, dass die meisten Menschen gerettet werden, sondern dass die Bedürftigsten eine Überlebenschance bekommen.“

Der Gesetzgeber wiederum steht vor der Aufgabe, den Gleichheitsgrundsatz und das Diskriminierungsverbot verteidigen zu müssen, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren, dass in einer Triage möglichst viele  Menschenleben gerettet werden. Ob das gelingen kann, ist eine offene Frage.

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