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Friedliche Menschen und Seifenblasen in Berlin Mitte. Sieht so die "Verlorene Mitte" aus?

© dpa

Von wegen „verlorene Mitte“: Eine Studie und ihre bewusste Fehlinterpretation

Die Deutschen sind demokratiefest und mehrheitlich tolerant. Was aus den Ergebnissen der „Mitte“-Studie gemacht wird, ist verantwortungslos. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Sigmar Gabriel

Es ist doch erstaunlich, wie sehr Politik und manche Medien anscheinend ein krisenhaftes Bild unserer Gesellschaft brauchen, um ihre Daseinsberechtigung zu legitimieren. Da erscheint eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, in der immerhin 86 Prozent der Bevölkerung die Demokratie für die richtige Regierungsform halten und immerhin 80 Prozent eine offene Gesellschaft befürworten und es gut finden, dass sich in unserem Land um Minderheiten gekümmert wird.

Und wenige Wochen vor der Europawahl meinen 86 Prozent, dass es gut wäre, die Europäische Union zu stärken, und nur 13 Prozent meinen, Deutschland sei ohne die EU besser dran. Der Prozentsatz der Ablehnung der EU ist seit 1990 sogar konstant niedrig. Und rechtsradikal ticken nach der Studie ganze 2,4 Prozent und das auch noch gleich verteilt in Ost- und Westdeutschland.

Statt nun diese außerordentlich positiven Befunde zu begrüßen und die Deutschen für ihre Aufbauleistung einer offenbar fest in der Gesellschaft verankerten Demokratie und ihre Europafreundlichkeit zu loben, wählen schon die Autoren die alarmistische Überschrift „Verlorene Mitte – Feindliche Zustände“.

Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, hier seien die Ergebnisse einer Studie unter einer bestimmten Vorwahrnehmung ihrer Autoren interpretiert worden. Und kein Wunder, dass Überschrift und Inhalt der Studie verwechselt wurden. „Alarmierend“ an der jüngsten Mitte-Studie sind weniger ihre Ergebnisse als der Umgang damit.

Die Skepsis gegenüber der Politik hat Gründe

Was es in Deutschland wie in fast allen anderen entwickelten demokratischen Industriestaaten gibt, ist eine wachsende Skepsis innerhalb ihrer Bevölkerungen, ob Politiker, Parteien und Regierungen noch willens und in der Lage sind, dem „Primat der Politik“ Geltung zu verschaffen. Dass sie Herausforderungen und Probleme in einem angemessenen Zeitrahmen nachvollziehbar lösen können oder das wenigstens glaubwürdig versuchen. Für diese Skepsis gibt es Gründe: zu wenig Lehrerinnen und Lehrer, zu wenig Polizisten, Staatsanwälte und Pflegekräfte, mangelhafte Infrastruktur, wachsende soziale Ungleichheit. Nicht zuletzt der Eindruck, Geld regiere die Welt und nicht etwa demokratisch gewählte Politikerinnen und Politiker.

Zu diesem Vertrauensverlust gegenüber der Handlungsfähigkeit „der Politik“ zählt für nicht wenige auch der Kontrollverlust in den Jahren massenhafter Zuwanderung von Flüchtlingen. Wenn die Studie jetzt zu dem Ergebnis kommt, dass 54 Prozent der Befragten Vorurteile gegenüber Asylbewerbern hegen, ist das gewiss kein gutes Zeichen. Und leider ist es tatsächlich so, dass die relativ geringe Zahl an Asylbewerbern und Flüchtlingen, die sich nicht an unsere Rechtsordnung halten, die öffentliche Wahrnehmung weit mehr bestimmen als die große Zahl absolut rechtstreuer Zuwanderer. Und trotzdem: Ist es wirklich so erstaunlich, dass es ein Gefühl der Unsicherheit hinsichtlich der Zuwanderung gibt?

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Warum fürchten wir uns eigentlich davor, offen zu sagen, dass es schon lange ein weitverbreitetes Gefühl gibt, dass „zu viele in zu kurzer Zeit“ gekommen seien und deshalb die Integration in die deutsche Gesellschaft nicht ausreichend gelungen ist. Und das stimmt doch! Eine andere Frage ist, ob es damals eine Alternative zur Aufnahme der Flüchtenden gegeben hätte. Aus meiner Sicht gab es die auch rückblickend nicht. Aber dass dadurch Reibungen, Auseinandersetzungen, Unsicherheiten und das Gefühl des Kontrollverlustes entstanden sind, ist doch Realität.

Vermutlich sogar eine unvermeidbare. Indem wir das nicht thematisieren, weil wir Angst davor haben, dass sich die wirklichen Ausländerfeinde und Hassprediger dann bestätigt fühlen und sich der Debatte bemächtigen, pathologisieren wir lieber die genannten 54 Prozent und erklären sie zur „verlorenen Mitte“. Es ist unfassbar dumm, wenn man jemanden in die Nähe von Ausländerfeinden rückt, nur weil er meint, dass Recht und Ordnung auch im Asylrecht gelten müssen und zu viele abgelehnte Asylbewerber im Land bleiben. Mit Wissenschaft hat das jedenfalls nichts zu tun.

Und apropos Mitte: Wer ist das eigentlich? Und was ist die Norm, an der die Vermessung der Mitte Deutschlands vorgenommen wurde? Es fehlt jedenfalls an einer Vergleichsstudie aus einem anderen Land, das als „normal“ einzustufen wäre, wenn Deutschland dies angeblich nicht ist.

Die Parole heißt jetzt: Demokratieförderung

Man könnte bei alldem auch zu dem Schluss kommen, dass die Stabilität unserer Demokratie und die Unterstützung einer offenen Gesellschaft angesichts dieser politischen Realität beeindruckend ist und sich die Deutschen offenbar doch ganz erheblich von anderen Europäern in dieser Hinsicht positiv unterscheiden. Aber wenn wir etwas verlernt haben, dann das eigene Land zu loben. Den Satz „Ihr dürft stolz darauf sein, was eure Eltern, Großeltern und ihr selbst in diesem Land geschafft habt“ überlassen wir den Torfköpfen, die ihre Glatzen meist auch nach innen tragen.

Das Risiko, das in einer unreflektierten Übernahme der Ergebnisse und dem Ruf nach „alternativlosen Demokratieförderungskonzepten“ liegt, ist, dass sie die Polarisierung in Deutschland eher fördert statt verringert. Was mögen wohl die Befragten denken, wenn sie jetzt lesen und hören, dass sie trotz ihrer Zustimmung zu Demokratie, Europa und offener Gesellschaft als „gefährdet“ angesehen werden? Statt auf sie zuzugehen und zu sagen: „Ja, es ist nicht alles gelungen, und es gibt auch Anlass zur Sorge, was einen Teil der Zugewanderten angeht“, werden sie selbst zum Problem erklärt.

Diese Debatte zementiert das „ihr“ und das „wir“, statt genau das zu überwinden. Im Zweifel wirkt diese Art der Auseinandersetzung polarisierend und gerade nicht „demokratiefördernd“. Statt sich gemeinsam dem gesellschaftlichen Wandel, der natürlich auch Reibungen, Unsicherheiten und Fremdheiten hervorruft, zu stellen, wird so der Widerstand gegen diesen Wandel provoziert.

Ich schätze Familienministerin Franziska Giffey wirklich außerordentlich. Warum ausgerechnet sie, die doch merklich mehr im Alltag der Menschen in Deutschland verankert ist als viele andere in der Politik, ein „Demokratiefördergesetz“ fordert, ist mir schleierhaft. Mal abgesehen davon, dass die Studie eher Anlass dazu bietet, gibt es ein solches Gesetz ja bereits, man nennt es Verfassung. Und die kennt eben Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen kann, nämlich den Willen zu Freiheit und Demokratie der Menschen. Und den gibt es Gott sei Dank, wie die Studie zeigt.

Alarmismus zeigt sich auch im Europawahlkampf

Die wachsende Distanz gegenüber den gewählten Trägerinnen und Trägern der Demokratie zu überwinden, erfordert im Übrigen auch etwas anderes als eine Fülle von sozialpädagogischen Förderprogrammen, wie sie ja in einem solchen Gesetz auftauchen würden. Nicht überall, aber hier gilt das Marx’sche Diktum: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Jede wirksame Bekämpfung des Mietwuchers, jedes Prozent bessere Unterrichtsversorgung, jede gelungene Integration von bleibeberechtigten Ausländern und auch jede gelungene Abschiebung vollziehbar Ausreisepflichtiger bringt mehr als ein solches Gesetz.

Es ist bei den alarmistischen Interpreten der Studie offenbar mehr die eigene Mitte verloren gegangen, weil der eigene Standpunkt zu häufig in schlagwortoptimierten Worthülsen eingebettet war. Der laufende Europawahlkampf ist ein Beispiel dafür. Er macht die Wähler vermutlich eher ratlos, worüber denn nun bei der Wahl entschieden werden soll. Außer den Antieuropäern hat man den Eindruck, die Proeuropäer verlängerten nur ihre innenpolitischen Themen auf die europäische Ebene. Um welches Europa es gehen soll, macht der Wahlkampf bisher nicht klar. Wenn das am Ende zu unangenehmen Wahlergebnissen führt, ist daran jedenfalls nicht „die Mitte“ schuld. Gefördert werden müsste anderes.
Sigmar Gabriel war SPD-Bundesvorsitzender und mehrfach Bundesminister und ist Autor des Tagesspiegels.

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