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Josef Schuster ist seit Ende 2014 Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland.

© Mike Wolff

„Viele Juden sind sehr vorsichtig geworden“: Schuster alarmiert vom Ausmaß antisemitischer Kriminalität

Der Präsident des Zentralrats der Juden warnt vor der wachsenden Gefahr durch antisemitische Verschwörungstheorien und Hate Speech. Ein Interview.

Von Frank Jansen

Herr Schuster, antisemitische Kriminalität hat im vergangenen Jahr den höchsten Stand seit 2001 erreicht. Was bedeutet das für jüdisches Leben in Deutschland?
Inzwischen ist es so, dass man als Jude in Deutschland im Alltag deutlich häufiger mit Antisemitismus konfrontiert ist als etwa vor zehn Jahren. Dabei spielt das Internet eine große Rolle, wo es nach wie vor viel zu viel Hate Speech gegen Juden gibt. Die Folge ist, dass viele Juden möglichst vermeiden, auf der Straße als Juden erkennbar zu sein und auch sonst sehr vorsichtig geworden sind.

Im Oktober hat der schwer bewaffnete Antisemit Stephan Balliet die Synagoge in Halle attackiert. Da er nicht hineinkam, erschoss Balliet zwei Passanten. Wie wirkt die Tat auf die jüdischen Gemeinden nach?
Der Schock wirkt immer noch nach, am stärksten natürlich in Halle selbst. Für die Gemeindemitglieder in Halle und die weiteren Besucher, die an Jom Kippur dort in der Synagoge waren, sind daher die Kontaktbeschränkungen wegen Corona besonders schwer zu ertragen. Sie brauchen eigentlich einen engen Austausch, um den Anschlag verarbeiten zu können.

"Statistik der Polizei nicht ganz realistisch"

Die Polizei stuft die große Mehrheit der judenfeindlichen Straftaten als rechts motiviert ein. Entspricht das aus Sicht des Zentralrats der Realität?
Ja, das können wir bestätigen, wenn wir auch weiterhin davon ausgehen, dass der Anteil der antisemitischen Straftaten, der auf das Konto anderer Gruppen geht, höher liegt als in der Statistik ausgewiesen. Im Alltag sind Juden auch mit Antisemitismus durch Muslime konfrontiert. Ich habe den Eindruck, dass sich das in der Statistik noch nicht ganz realistisch widerspiegelt.

Polizei, Justiz und Verfassungsschutz befassen sich intensiv mit Antisemitismus. Trotzdem steigt die Zahl der Straftaten auf der Straße wie im Internet. Wo müsste in den Behörden wie auch in Politik und Gesellschaft mehr getan werden, um den Judenhass zu bremsen?
In der Politik werden ja seit einiger Zeit verstärkt Maßnahmen ergriffen. Doch ich will zwei Bereiche nennen, die ich für zentral halte: die Justiz und die Schulen. Vor Gericht wurde zu häufig Antisemitismus nicht als solcher benannt und geahndet. Das könnte sich jetzt bessern, weil es zunehmend Antisemitismusbeauftragte bei den Staatsanwaltschaften gibt und antisemitische Motive ausdrücklich als strafverschärfend ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden sollen.

"Wir müssen die junge Generation gegen Rechtsradikale immun machen"

Daneben brauchen wir mehr Aufklärung in den Schulen, sowohl für mehr Medienkompetenz als auch eine bessere Wissensvermittlung über die Schoa und das Judentum insgesamt. Mir ist klar, dass wegen der Corona-Krise enorm viel Unterricht ausgefallen ist. Doch es wäre fatal, wenn deshalb ausgerechnet diese Themen jetzt unter den Tisch fallen. Wir müssen die junge Generation nicht nur gegen das Corona-Virus wappnen, sondern sie auch gegen Rechtsradikale und Hass immun machen.

In der Coronakrise schüren Verschwörungstheoretiker antijüdische Ressentiments, Impfgegner tragen den gelben Judenstern der Nazis - mit der Aufschrift „ungeimpft“.  Wie gefährlich sind solche Provokationen?
Ich halte diese unerträglichen Provokationen für sehr gefährlich, weil sich leider bei den so genannten Hygiene-Demos ein sehr breites Spektrum von Rechtsaußen bis Linksaußen zusammenfindet. Und die Bilder und Verschwörungsmythen finden über das Internet eine enorme Verbreitung. Allerdings stimmt es mich optimistisch, dass diese Demos in jüngster Zeit weniger Zulauf hatten und sich bereits Gegendemonstranten formiert haben. Doch es gilt, wachsam zu bleiben, auch und gerade wenn die Corona-Krise wieder vorbei ist.

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