zum Hauptinhalt
Matteo Salvini, Innenminister von Italien.

© Vincenzo Livieri/LaPresse via ZUMA Press/dpa

Viel Hetze und mehr Flüchtlinge: Salvini gegen den Rest der Welt

Publikumswirksam tobt Italiens Innenminister gegen Sea Watch und andere NGOs. Dabei verschweigt er, dass auch ohne Hilfe mehr Flüchtlinge kommen.

Italiens Innenminister Matteo Salvini ist wütend. Ziel seines Unwillens ist nicht nur die Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete, sondern auch die französische Hauptstadt, die die 31-Jährige mit einer Medaille ehren will. „Sie zeichnen die deutsche Kapitänin Carola Rackete wie eine Heldin aus, aber es war Paris, das nicht auf ihre Hilferufe reagiert hat“, erklärte Salvini am Samstag. Rackete und ihre Kollegin Pia Klemp sollen mit der „Médaille Grand Vermeil de la Ville de Paris“ für ihre Solidarität und das Engagement für die Achtung der Menschenrechte geehrt werden, teilte das Rathaus mit.

Unterdessen hat Rackete in Rom Klage wegen schwerer Verleumdung und Anstiftung zu Straftaten gegen Salvini eingereicht. Da er in der Öffentlichkeit und sozialen Medien zu Hass anstachele, sollten seine offiziellen Facebook- und Twitter-Konten gesperrt werden, heißt es in der Klageschrift: „Matteo Salvini vermittelt mit seinen Worten abgrundtiefe Gefühle des Hasses, der Verleumdung und sogar einer wahrhaftigen Entmenschlichung.“

Im Streit um die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU hat sich Bundesaußenminister Heiko Maas am Sonnabend für eine Vorreiterrolle Deutschlands und anderer aufnahmewilliger Staaten ausgesprochen. „Wir brauchen ein Bündnis der Hilfsbereiten für einen verbindlichen Verteilmechanismus“, sagte der SPD-Politiker dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Österreichs Ex- Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) wies den Vorschlag umgehend zurück: „Die Verteilung von Migranten in Europa ist gescheitert“, teilte Kurz mit. Das scheinen auch viele Italiener so zu sehen, die der rabiaten Flüchtlingspolitik ihres Innenministers zustimmen.

Viele Italiener stimmen dem Minister zu

Dass sich Salvini die privaten Seenotretter als Hauptzielscheibe ausgewählt hat, ist deshalb auch kein Zufall: Sie sind in Italien unpopulär. Viele Italiener sehen nicht ein, warum eine deutsche, holländische oder französische Hilfsorganisation entscheiden soll, wer in Italien aufgenommen wird und wer nicht. Italiens Küstenwache und Marine hatten jahrelang Hunderttausende von Flüchtlingen aus dem Mittelmeer gerettet und an Land gebracht; kaum jemand versteht, warum die ausländischen NGOs ihre geretteten Flüchtlinge ebenfalls nach Italien bringen sollen und nicht, zum Beispiel, in den jeweiligen Flaggenstaat der privaten Schiffe. Obwohl nur jeder dritte Italiener bei den Europawahlen Salvini gewählt hat, stimmen 59 Prozent der Schließung der italienischen Häfen für die privaten Retter zu.

Deshalb war die Bitte des deutschen Innenministers Horst Seehofer, Salvini möge doch die Blockade der Häfen wieder aufgeben, eine Steilvorlage für den Chef der rechtsradikalen Lega: „Italien ist keine Müllhalde mehr für nicht gelöste europäische Probleme“, reagierte Salvini . Auch in diesem Punkt hat der Innenminister die Mehrheit der Wähler auf seiner Seite: Nachdem Italien von den europäischen Partnern viele Jahre mit den Bootsflüchtlingen allein gelassen worden sei, nehme man in dieser Frage keine moralischen Belehrungen mehr entgegen, „weder von Paris, noch von Berlin, noch von Brüssel“, betont Salvini bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

Die Strafen werden noch einmal verschärft

Salvini gibt virtuos den einsamen Kämpfer, der als Einziger mutig und unerschrocken gegen eine internationale Phalanx aus gewissenlosen Schleppern, komplizenhaften NGOs, naiven Gutmenschen und obskuren internationalen Finanzmächten vorgeht, deren einziges Ziel darin bestehe, "Italien mit illegalen Migranten zu füllen". Um Italien gegen diese äussere Verschwörung zu schützen, werden nun die Strafen für das unbefugte Eindringen in italienische Hoheitsgewässer noch einmal verschärft: Statt maximal 50.000 Euro riskiert ein privates Rettungsschiff in Zukunft bis zu einer Million Euro Strafgeld, falls die Crew die Weisungen der Behörden ignoriert, wie dies Carola Rackete mit der "Sea Watch 3" getan hatte. Das Schiff kann außerdem bereits bei der ersten Zuwiderhandlung beschlagnahmt werden.

Salvini schiebt den schwarzen Peter nicht zu Unrecht zurück an die EU, denn Italien wurde und wird mit der Problematik alleine gelassen, genau wie Griechenland und auch Spanien.

schreibt NutzerIn Offenbach-am-Meer

"Alleingelassen" fühlte sich Salvini diese Woche auch von Verteidigungsministerin Elisabetta Trenta von den Fünf Sternen. Statt eine effiziente Seeblockade zu organisieren, halte die Kollegin die Marine-Schiffe absichtlich zurück, polterte der Innenminister. Trenta konterte, dass sie Salvini mehrfach die Unterstützung der Marine angeboten habe, doch diese Hilfe sei abgelehnt worden. Im übrigen, betonte die Ministerin, sei es ja klar, dass mit der Suspendierung der europäischen Sophia-Mission wieder vermehrt die NGO-Retter auf den Plan träten. Die Operation Sophia diente in erster Linie die Bekämpfung der Schlepperbanden; die Schiffe retteten aber auch tausende Flüchtlinge. Die Mission beschränkt sich auf Druck Salvinis seit diesem März auf Luftüberwachung.

1997 kam es in der Adria zu einer Tragödie

Trenta hat inzwischen zugesagt, Schiffe zur Kontrolle und zum Schutz der italienischen Hoheitsgewässer zur Verfügung zu stellen. Ob der Einsatz notfalls auch die Errichtung einer Seeblockade einschließen würde, ist derzeit nicht klar. Fabrizio Coticchia, Experte für internationale Beziehungen, sähe eine ganze Reihe praktischer und rechtlicher Problem - ganz besonders dann, wenn sich eine Blockade nicht nur gegen die soliden privaten Rettungsschiffe, sondern auch gegen die zum Teil kaum seetüchtigen Flüchtlingsboote richten sollte. "Das letzte Mal, als ein italienisches Marineschiff eine Seeblockade versucht hatte, endete dies in einer Tragödie: Am 28. März 1997 wurde ein Schiff mit albanischen Flüchtlingen in der Adria von der Marine gerammt, es gab über hundert Tote", betont Coticchia. Innenminister war damals Giorgio Napolitano gewesen, der spätere Staatspräsident.

Das ganze Säbelgerassel, das ganze Wüten und Pöbeln gegen die Flüchtlinge und ihre Helfer können freilich immer weniger darüber hinwegtäuschen, dass Salvini mit seinem Versprechen, die Zahl der Migranten auf null zu reduzieren, gescheitert ist. Die erste große Niederlage hat ihm Carola Rackete beschert, die nicht – wie sich das Salvini gewünscht hatte – „noch bis Neujahr auf dem Meer vor Lampedusa“ geblieben ist, sondern die Flüchtlinge an Land gebracht hat und von der Untersuchungsrichterin in Agrigento freigesprochen wurde. Da konnte der Innenminister die Richterin noch so lange verwünschen – seine Politik der geschlossenen Häfen ist am Rechtsstaat zerschellt.

Die Richterin sagt, Rackete ihre Pflicht getan habe

Die sizilianische Untersuchungsrichterin hat entschieden, dass die von Rackete eventuell begangenen Straftaten durch den Umstand „geheilt“ würden, dass die junge Kapitänin einfach ihre Pflicht erfüllt hatte, nämlich Leben zu retten. Das Urteil könnte von anderen NGOs zum Anlass genommen werden, Hafensperrungen künftig ebenfalls zu ignorieren – ein schwerer Rückschlag für die Politik der geschlossenen Häfen.

Für Salvinis Propaganda noch sehr viel peinlicher ist der Umstand, dass die Zahl der ankommenden Bootsflüchtlinge in den letzten Wochen markant zugenommen hat – ohne dass der Innenminister davon redet und vor allem ohne dass er dagegen etwas unternehmen könnte: Von den insgesamt 3082 Migranten, die in den ersten sechs Monaten des Jahres angelandet sind, wurden nur 297 von den privaten Rettern nach Italien gebracht – nicht einmal jeder zehnte. Die anderen kommen direkt und ohne fremde Hilfe über das Mittelmeer.

Dass nun wieder mehr Flüchtlinge in Italien ankommen, ohne vorher gerettet werden zu müssen, ist ein Zeichen dafür, dass die Schlepperbanden dabei sind, sich an die neue Situation anzupassen: Als die staatlichen und die privaten Retter noch wenige Seemeilen vor der libyschen Küste kreuzten, wurden die Flüchtlinge in billige Schlauchboote gesetzt, die gerade stabil genug waren, die libyschen Hoheitsgewässer hinter sich zu lassen. Vermehrt werden nun wieder alte Fischerboote aus Holz oder Stahl verwendet, die eine mehrtägige Überfahrt zumindest theoretisch überstehen können. Die Zahl der direkt ankommenden Flüchtlinge dürfe in den nächsten Monaten deutlich zunehmen – ohne dass Salvini dagegen viel wird unternehmen können. (mit dpa)

Zur Startseite