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Der Berliner Schiedsrichter Manuel Gräfe hält die Regeln für den Videobeweis für noch nicht ausgereift.

© imago/Revierfoto

Videobeweis im Fußball: "Der Eingriff darf nur bei glasklaren Fehlern erfolgen"

In der neuen Saison wird der Videobeweis in der Bundesliga getestet. Es gibt Für und Wider, sagt der Berliner Schiedsrichter Manuel Gräfe. Ein Interview.

Die Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters gilt in der kommenden Bundesliga-Saison nicht mehr uneingeschränkt. Er wird in besonders strittigen Szenen bei der Entscheidung von einem Video-Assistenten unterstützt. Die Testphase läuft bis zum März kommenden Jahres.
Herr Gräfe, freuen Sie sich auf den Videobeweis?

Natürlich freuen wir uns alle darüber, dass wir von einer schweren Bürde befreit werden. Jeder Schiedsrichter hat als größte Sorge, dass er eine Jahrhundert-Fehlentscheidung treffen könnte – einen Pfiff, den du nie wieder loswirst. Zum Beispiel das Phantomtor von Bayerns Thomas Helmer gegen Nürnberg oder das Handspiel des Schalkers Oliver Held, durch das Köln absteigen musste. So etwas ist durch den Videobeweis ausgeschlossen. Aber…

Aber?

Die ganz krassen Fehlentscheidungen werden verschwinden, aber wie viele hatten wir denn davon in der vergangenen Saison? Vielleicht eine gute Handvoll. Die Schwalbe von Timo Werner, den Ellenbogencheck von David Abraham gegen Sandro Wagner, das Abseitstor bei Dortmund gegen Hoffenheim, Lars Stindls Handtor – aber da bewegen wir uns schon in der Grauzone. War das wirklich eine aktive Handbewegung? Für mich schon.

Aber Ihr ehemaliger Kollege Peter Gagelmann hat als Experte bei Sky nach dem Studium der Fernsehbilder von einem korrekten Tor gesprochen…

Sehen Sie, da sind wir beim Problem, bei der Interpretation einzelner Szenen. Es wird viele Situationen geben, die die Videoschiedsrichter richtig auflösen. Aber es gibt eben auch viele, die für den einen klar falsch sind und für andere noch im Grenzbereich liegen. Jeder Schiedsrichter hat seine Sicht. Wenn wir bei Lehrgängen oder auch in der Testphase einzelne Szenen besprachen, kam es öfter vor, dass von gut 20 Bundesliga-Schiedsrichtern zehn so denken und zehn anders. In etlichen Fällen könnte es beim Videobeweis also zu einer Verlagerung der Diskussion und Verantwortung kommen. Vom Platz nach draußen. Ich hoffe nur nicht, dass es dann heißt: Jetzt haben Sie noch die Bilder und machen es immer noch falsch.

Welche Vorgaben gibt es für die Testphase in der kommenden Saison?

Der Eingriff von außen darf nur bei glasklaren Fehlern erfolgen, weil das Spiel sonst zu sehr zerfasert. Aber was ist glasklar? Da gibt es zwar theoretisch einen einheitlichen Bewertungsmaßstab, aber wie praktisch? Dann muss der Eingriff vor der nächsten Spielfortsetzung erfolgen, sonst geht das Spiel weiter. Insgesamt darf der sogenannte Video Assistant Referee auch nur bei vier verschiedenen Situationen eingreifen: bei Toren, Elfmetern, Spielerverwechslungen oder Roten Karten.

Nicht jedoch bei Gelben Karten.

Nein, selbst dann nicht, wenn Sie zu einer Gelb-Roten Karte führen, was für die betroffene Mannschaft dieselbe Konsequenz hat, nämlich einen Platzverweis. Die falsche Eckstoßentscheidung, die vielleicht zum entscheidenden 1:0 führt, kann ebenso wenig korrigiert werden wie falsche Freistoßentscheidungen, die 18 Meter vor dem Tor eben zu einem solchen führten, und so weiter und so fort. Ich fürchte, dieses System ist noch nicht ganz ausgereift, aber es ist ja auch nur ein Test. Entschieden wird von der Fifa erst 2018. Es werden aber sicher noch Diskussionen aufkommen.

Wie wird das in der kommenden Bundesligasaison konkret aussehen?

Wir sitzen in einem Keller in Köln, bei den parallel laufenden Spielen alle nebeneinander. Jeder Video-Schiedsrichter hat einen Operator, einen Techniker, der sich um das schnelle Bereitstellen der Bilder kümmert. Dazu gibt es noch einen Supervisor, der alle Spiele im Blick hat, sich um den Fortlauf eines Spiels kümmert, während der Video-Schiedsrichter eine Szene überprüft. In dieser Zeitspanne kann ja auch etwas passieren.

Welche Perspektiven stehen zur Verfügung?

Ein Livebild und ein um drei Sekunden versetztes Livebild, bei dem man einen ersten Verdacht schnell prüfen kann. Entscheidet sich der Video-Schiedsrichter zum Eingriff, kann er auf die Schnelle zwischen vier Perspektiven wählen, zur Not kann er sogar auf 22 Perspektiven ausweiten, wenn er sich unsicher ist.

Kann sich der Schiedsrichter auch selbst ein Bild von den Bildern machen?

Theoretisch schon. In jedem Stadion wird es eine Review Area geben, einen abgesperrten und für Spieler verbotenen Bereich mit einem Monitor.

Seit wann testen Sie für den Ernstfall?

Die gesamte vergangene Saison über. In der letzten Testphase gab es extra für uns in allen Bundesligastadien Testspiele zwischen Juniorenmannschaften, bei denen wir das gesamte Prozedere durchgespielt haben. Das sollte ein Feldversuch unter realen Bedingungen sein, aber dabei stößt man natürlich an Grenzen. Man kann die Bundesliga nicht simulieren. Bei einem unbedeutenden Testspiel mag einem das locker von der Hand gehen, aber wie sieht das bei Dortmund gegen Schalke aus? Wenn du als Schiedsrichter 15 Sekunden lang auf dem Platz stehst, nichts tust und mit deinem Headset auf die Ansage aus Köln wartest, kann das eine wahnsinnig lange Zeit sein.

Wird der Videobeweis den Fußball verändern?

Ganz bestimmt! Vor ein paar Wochen beim Länderspiel in Paris zwischen Frankreich und Spanien…

…bei dem Ihr Kollege Felix Zwayer den Franzosen durch den Videobeweis ein Tor aberkannte und den Spaniern eines zusprach, das er vorher abgepfiffen hatte…

…da hat selbst die Überprüfung der Abseitssituationen eine Minute und beim anderen Mal 40 Sekunden gedauert. Das ist schon ein sehr krasser Eingriff in das Spiel. Die Spieler wissen nicht, wann sie jubeln dürfen und die Zuschauer auch nicht. Stellen Sie sich das mal vor 80000 Zuschauern bei Dortmund gegen Schalke vor! Der Fußball, also die Fans, Vereine und Verbände sollten nach der Testphase ergebnisoffen und differenzierter als bis jetzt Vor- und Nachteile abwägen.

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