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Das Archivbild zeigt die Sitzungseröffnung der Unterzeichnung des Friedensvertrages im Schloße von Versailles.

© dpa

Versailler Vertrag: Ein bitteres Lehrstück

Vom Versailler Vertrag führte keine unausweichliche Bahn zur Nazi-Herrschaft. Das sind Entlastungsversuche. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Bernhard Schulz

Das Europa von heute ist durchaus kein Hort der Seligen. Es hat seine Krisen und weiß oftmals nicht, wie es die Probleme einzelner Staaten, die doch zumeist nicht nur deren Probleme sind, gemeinschaftlich lösen könnte. Immerhin gibt es nicht mehr die ungelösten Fragen ethnischer Minderheiten und territorialer Ansprüche, die der Versailler Vertrag hinterließ. Heute erinnert der 100. Jahrestag seiner Unterzeichnung im Spiegelsaal von Schloss Versailles daran. Er mahnt zugleich, alle Anstrengungen zu unternehmen, um Frieden und gedeihliches Miteinander in Europa zu bewahren.
Denn eines kann heute niemand mehr arglos behaupten: dass er nicht wüsste, wohin die abgrundtiefe Verachtung führt, wie sie der europäischen Friedensordnung des damaligen Vertrages entgegenschlug. Sie hat in die Barbarei geführt, in den Zweiten Weltkrieg und die totale Zerstörung. 1919 standen die Zeichen auf Hochmut bei den Siegern und Hass bei den Verlierern. Das heutige Europa ist zum Glück klüger – und muss es sein.
Als der Erste Weltkrieg im November 1918 endlich zu Ende war, existierten drei europäische Kaiserreiche nicht mehr. In Russland war anderthalb Jahre zuvor die Revolution ausgebrochen, Österreich-Ungarn zerfiel in einzelne Nationalstaaten und in Deutschland verschwanden Kaiser und Fürsten. Europas Grenzen mussten neu geordnet, die Hinterlassenschaften des Krieges geregelt werden. Das alles sollte der Versailler Vertrag leisten. Verhandelt wurde er in Paris. Die Siegermächte Frankreich, Großbritannien, USA samt Mitunterzeichnern gaben dem Deutschen Reich die Alleinschuld am Weltkrieg und forderten übermäßige Reparationen – ohne dass zuvor, wie 1815 auf dem Wiener Kongress, ein erträglicher Ausgleich zwischen Siegern und Besiegten gesucht worden wäre.

Empörung in Deutschland

In Deutschland war die Empörung riesengroß. „Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?“, rief Philipp Scheidemann aus, als der Vertrag vorlag, und trat als Regierungschef zurück. Ausgerechnet Scheidemann, der so viel dazu beigetragen hatte, dem geschlagenen Deutschen Reich einen Bürgerkrieg zu ersparen! Doch am Versailler Vertrag führte kein Weg vorbei. Zu hoch waren die Erwartungen der Sieger, nach vier Jahren Kriegsanstrengungen endlich belohnt zu werden, mit Reparationen, Territorialgewinnen und Dominanz. In Deutschland wollten nur wenige einsehen, dass die Alternative zur Unterzeichnung die Besetzung und Aufspaltung des Reiches durch die Siegermächte war. Fortan war die politische Atmosphäre vergiftet. Dies jedoch nicht bloß bei den Besiegten, die sich mit Dolchstoßlegende und Revanchegelüsten aus der Wirklichkeit davonzustehlen suchten, sondern auch bei den Siegern. Sie wurden ihres Sieges nicht froh. Gewiss führte vom Versailler Vertrag keine unausweichliche Bahn direkt bis zur Nazi-Herrschaft. Das sind Entlastungsversuche, um vom Kollaps der Weimarer Demokratie in ihrer Agoniephase ab 1930 abzulenken. Dennoch war dieser Vertrag eine schwere Hypothek. Die USA erkannten das früh und setzten sich dafür ein, die Deutschland auferlegten Reparationsleistungen zu mindern. Und beinahe wäre die Erleichterung der drückenden Zahlungslast noch der Republik zugute gekommen. Doch stattdessen blieb es Hitler überlassen, aus dem Hass auf das „Diktat von Versailles“ politischen Nutzen zu ziehen. Wie anders die Situation nach der Wende von 1989/90! Denn da kehrte das „System von Versailles“ mit einem Mal auf die europäische Landkarte zurück. Nun verliefen die Grenzen in Mittel- und Osteuropa vielfach wieder dort, wo sie 1919 in Paris gezogen worden waren; allenfalls korrigiert um Verschiebungen, die der Zweite Weltkrieg erbracht hatte. Aber die Stimmung der Nationen, der Völker seit 1990 ist eine so gänzlich andere als nach 1919. Die allermeisten Staaten Europas haben begriffen, dass mit Krieg und Grenzrevisionen nichts zu gewinnen ist – aber alles zu verlieren.

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