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Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (beide CDU) kommen mit Gesichtsmaske zur wöchentlichen Kabinettssitzung.

© John Macdougall/POOL afp/dpa

Verhängnisvolle Ansteckungskette: Jetzt verspielt die Politik auch noch ihr größtes Pfund

Immer neue Regeln, immer neue Widersprüche, immer neue Ausnahmen: So geben die Regierenden weder Halt noch Hoffnung. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Lorenz Maroldt

Seit bald einem Jahr beschäftigt sich die Welt mit Corona, und die Sehnsucht nach Normalität wächst ins Unermessliche. Der Daueralarm ermüdet, alles wirkt volatil: die Erkenntnisse über das Virus und den Verlauf der Krankheit, die Hoffnung auf ein Ende der Gefahr durch Immunisierung, die Kurven der Statistiker.

Konstant sind nur die ernsten Gesichter derer, die neue Zahlen interpretieren oder neue Verordnungen zu erklären versuchen. Wer im Netz nach den Corona-Auftritten von Merkel oder Müller sucht und nicht auf das Datum achtet, kommt leicht durcheinander: War das jetzt der aktuelle Appell? Der vor acht Wochen? Der aus dem Frühling?

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Die Politik wirkt immer ratloser - und zieht sich in der Flut schlechter Nachrichten zurück an den einzigen Ort, der ihr sicher erscheint: auf einen wachsenden Berg voller Verordnungen, Regeln, Ausnahmen und Gesetze.

Die Politik hält sich an Paragrafen fest, wie ein Ertrinkender einen Halm umklammert. Doch den Menschen, die sie erreichen wollen, gibt das keinen Halt. Immer neue Widersprüche führen zu immer neuen Ausnahmen - und die zu neuen Widersprüchen. Sinn und Ziel der Regeln geraten so immer mehr aus dem Blick, die Regel selbst wird zum Zweck und zum Symbol der Verzweiflung.

Volle Züge auf dem Weg zur Arbeit

Auch die neuen, „härteren“ Beschränkungen weichen die eigentliche Botschaft auf. Es kommt nicht darauf an, ob der „Bewegungsradius“ eines Hotspot-Bewohners 15 Kilometer beträgt, 14 oder 16. Es ist unsinnig, die Leute darüber grübeln zu lassen, ob ein zusammenlebendes Paar zwar die Nachbarin empfangen darf, die Nachbarin aber vielleicht nicht das Paar. Und es ist gefährlich, durch weitgehende Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen bis ins Intimste hinein den Menschen Sicherheit vorzugaukeln, sie dann aber weiter in vollen Zügen zur Arbeit zu schicken.

Es ist in dieser Pandemie nicht entscheidend, was wir dürfen, sondern was wir tun, oder eben: was wir lassen. Je detaillierter aber das Dürfen geregelt wird, desto leichtfertiger wird es auch ausgereizt bis zum Anschlag - und ohne wirksame Kontrolle auch gerne darüber hinaus. Es ist ein Fehler, sich in der Pandemie zu sehr auf solche Details zu fixieren und Lücken auszutesten.

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Paradoxerweise hat die regierende Politik einige große Chancen verprasst, die wertvollste davon: das Vertrauen der Leute in ihr Handeln.

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Denn das war größer, als die Politik offenbar selbst zu hoffen wagte. Alle Umfragen seit Beginn der Pandemie zeigen, dass die Bereitschaft der Mehrheit, sich einzuschränken, viel größer war, als die lautstarken Skeptiker suggerierten.

Aber wenn die Politik den Leuten nicht traut, traut sie sich selbst nichts mehr zu, und dann, erst dann, verlieren die Leute auch ihr Vertrauen in die Politik. Eine Ansteckungskette, die verhängnisvoll ist.

[Lesen Sie hier ein Pro & Contra zu der Frage, ob Corona-Geimpfte mehr Freiheiten genießen sollten als Nicht-Geimpfte]

Den Glauben an die Politik haben vor allem die Eltern verloren: Sie werden abgefertigt mit Kann-Soll-Appellen und allein gelassen. Zwischen der ungeregelten Notbetreuung in der Kita, dem Digitaldesaster in der Schule und der Zwangspräsenz bei der Arbeit können sie beim besten Willen keine vernünftige Entscheidung mehr treffen, ohne die Gesundheit ihrer Familie oder ihren Job zu riskieren.

Corona beleuchtet die Probleme grell

Zehn zusätzlich „Kinderkrankentage“ zur Betreuung helfen da nicht entscheidend weiter. Klare, verbindliche Homeoffice-Regeln und eine konsequente Homeschooling-Politik schon.

Zwar kann niemand ernsthaft erwarten, dass in einer solchen neuen, unübersichtlichen Situation keine Fehler passieren; aber die strukturellen Probleme waren vielfach schon vorher bekannt. Corona beleuchtet sie grell, seit fast einem Jahr.

Was ist seitdem wirklich geschehen? Ganz offensichtlich zu wenig. Eine Erfahrung der vergangenen Monate im Umgang mit Corona lautet: Je schneller und entschlossener, desto gesünder und besser. Dass die Politik sich mit ihren Entscheidungen quält, ist zwar kein Makel. Aber etwas mehr Hoffnung und Halt muss sie schon bieten.

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