zum Hauptinhalt
Hass auf Israel. Antisemitismus gibt es in nahezu allen extremistischen Szenen. Im Bild junge Muslime, die in Berlin-Neukölln eine selbstgemalte Fahne mit Davidstern verbrennen.

© dpa

Verfassungsschutz warnt vor Antisemitismus: Hass und Hetze gegenüber Juden nimmt neue Dimension an

Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat das Lagebild Antisemitismus aktualisiert. Das Papier ist brisant. Judenhass von Extremisten findet Anschluss.

Von Frank Jansen

Die Lektüre ist erschreckend. Die rechtsextreme Gruppierung "Patriotische Europäer gegen die Zionisierung des Abendlandes" verbreitet bei Telegram, "früher vergiftete der Jude den Brunnen und heute gibt es Impfungen. Der Jude war und ist ein Giftmischer und Bill Gates trägt im übrigen auch Kippa“.

Der zum fanatischen Coronaleugner mutierte Vegan-Koch Attila Hildmann hetzt bei Telegram, "der Jude war und ist der Feind aller freien Völker". Ein Reichsbürger bezeichnet bei Telegram deutsche Politiker als "Angestellte der privaten Israelisch-Vatikanischen Firma Bundesrepublik Deutschland".

Propalästinensische Demonstranten skandieren im Mai 2021 bei einer Demonstration in Berlin "Tel Aviv bombardieren" und "Kindermörder Israel". Türkische Linksextremisten fordern auf einer Website, „Imperialistische und zionistische Mörder Hände weg von GAZA!“

Und das ist nur ein Teil der Hassparolen, die das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) gesammelt hat. Im "Lagebild Antisemitismus 2020/2021" wird die Dimension der Hetze gegen Jüdinnen und Juden sichtbar. Bei Extremisten jeder Couleur.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Das jetzt vom BfV vorgelegte, 116 Seiten umfassende Papier ist eine Fortschreibung des Lagebildes vom Juli 2020. Seitdem haben sich Hass und Hetze noch verschärft. "Es ist erschreckend, dass antisemitische Narrative mitunter bis in die Mitte der deutschen Gesellschaft anschlussfähig sind und als Bindeglied zwischen gesellschaftlichen Diskursen und extremistischen Ideologien dienen", sagte BfV-Präsident Thomas Haldenwang am Mittwoch.

"Dies haben wir zunehmend bei den Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen oder bei Kundgebungen zum Nahost-Konflikt gesehen und nehmen es aktuell auch vereinzelt im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wahr."

Haldenwang verwies auch auf die weiter zunehmende antisemitische Kriminalität. Obwohl im Lagebild für 2021 noch keine Zahlen genannt werden, ist bereits bekannt, dass Judenhasser im vergangenen Jahr mehr als 3000 Straftaten begangen haben. Das ist ein Anstieg um 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr und der höchste Stand seit 2001.

Faeser: "Beschämend, wie der Völkermord an Juden verharmlost wurde"

Das Lagebild ist auch für Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) schwer erträglich. "Es ist eine Schande für unser Land, wie viel antisemitische Hetze und Menschenverachtung auch heute verbreitet wird", sagte Faeser.

Mit Blick auf die Radikalisierung in Teilen der Corona-Protestszene nannte sie es "beschämend, wie der Völkermord an den europäischen Juden von manchen Corona-Leugnern, die sich einen gelben Stern anheften, verharmlost wurde". Sie mahnte, "tief verwurzelter Menschenfeindlichkeit konsequent zu begegnen, ist nicht allein eine Aufgabe von Polizei, Justiz und Sicherheitsbehörden. Es ist eine Aufgabe für uns als Gesellschaft". Da ist allerdings, das zeigt das Lagebild, viel zu tun.

Attila Hildmann als Exempel für schnelle Radikalisierung

Das BfV selbst hat offenbar wenig Hoffnung, dass der Judenhass nachlassen könnte. "Wie die antisemitischen Eruptionen vor dem Hintergrund des Nahost-Konflikts Mitte 2021 oder der offene Gebrauch antisemitischer Stereotype innerhalb der Protestbewegung gegen die Corona-Politik zeigen, war Antisemitismus auch im zurückliegenden Berichtszeitraum in hohem Maße virulent", heißt es im Lagebild.

Antisemitismus sei "in sämtlichen extremistischen Phänomenbereichen verbreitet". Das BfV erwähnt, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, Rechtsextremisten, Reichsbürger, fanatisierte Coronaleugner, Verschwörungstheoretiker, Islamisten von der Terrormiliz IS bis zu den in Deutschland scheinbar friedliebenden Muslimbrüdern, die kurdische Terrororganisation PKK, deutsche und türkische Linksextremisten sowie türkische Nationalisten.

Der Radikalisierung von Attila Hildmann wird sogar ein eigenes kleines Kapitel gewidmet. Als "Exempel für einen schnellen Radikalisierungsprozess sowie einen mittlerweile offenen und extremen Antisemitismus".

Weit verbreitete antisemitische Vorurteile bei Muslimen

Am tiefsten sitzt der Judenhass bei deutschen Neonazis. "Innerhalb des sich am historischen Nationalsozialismus orientierenden Personenkreises und insbesondere in der gewaltorientierten Szene herrscht offene Zustimmung zum aggressiv-repressiven oder eliminatorischen Antisemitismus des NS-Regimes", heißt es im Lagebild. Beunruhigend ist aber auch, wie das BfV die islamistische Szene bewertet - und auch deren Anschlussfähigkeit an nicht extremistische Muslime.

Der Nachrichtendienst nimmt vor allem Bezug auf die teils gewaltsamen Proteste in Berlin und anderen Städten im Mai 2021, als der militärische Konflikt zwischen Israel und der palästinensischen Terrororganisation Hamas eskalierte. "Die antisemitischen Vorfälle vom Mai 2021 zeigen, dass insbesondere eine Eskalation des Nahost-Konflikts auch hierzulande zu einer erheblichen Emotionalisierung der muslimischen Bevölkerung bis hin zu gewaltsamen Angriffen führen kann", steht im Lagebild.

Und: "Bei der überwiegenden Anzahl von demonstrativen Veranstaltungen konnten antisemitische und antiisraelische Äußerungen und Handlungen festgestellt werden. Hierbei gehörte ein Großteil der wegen mutmaßlicher Straftaten festgestellten Personen muslimischen Bevölkerungsgruppen ohne Organisationsbezug an.

Dies legt nahe, dass auch unabhängig von einer dezidiert extremistischen Einstellung antisemitisches Gedankengut in muslimisch geprägten Bevölkerungsgruppen verbreitet ist und dort als gesellschaftlich vertretbar akzeptiert wird."

Eine harte Analyse. Sie wird allerdings im Lagebild untermauert von einer weltweiten Studie der amerikanisch-jüdischen "Anti Defamation League" aus den Jahren 2013 und 2014. Demnach stimmten im Nahen und Mittleren Osten sowie in Nordafrika 74 Prozent der befragten Personen mit dem Großteil antisemitischer Vorurteile überein. In Westeuropa waren es 24 Prozent.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false