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Hass auf die Regierung. Vor zwei Wochen kamen in Hamburg etwa 200 Demonstranten zusammen. Der Verfassungsschutz der Hansestadt stuft zwei Organisationen von Coronaleugnern als Verdachtsfall ein

© imago images/Hanno Bode

Verfassungsschutz setzt bundesweites Zeichen: Hamburger Querdenker werden „Verdachtsfall“

Der Nachrichtendienst der Hansestadt nimmt sich die Querdenker vor. Er kann nun ihren E-Mail-Verkehr überwachen.

Von Frank Jansen

Der Hamburger Verfassungsschutz setzt bundesweit ein Zeichen bei der Beobachtung von Coronaleugnern. Der Nachrichtendienst der Hansestadt bewertet als erster zwei regionale Gruppierungen als eigenständiges Extremismusphänomen und stuft sie als Verdachtsfälle ein. Das betrifft „Querdenken 40“ und „Hamburg steht auf“.

Innensenator Andy Grote (SPD) sagte am Dienstag: „Die beispiellosen Herausforderungen durch die Corona-Pandemie fördern zurzeit die Entstehung eines neuartigen Extremismus sui generis.“ Verfassungsfeindliche Verschwörungsideologen „könnten eine ernsthafte Herausforderung für unsere Demokratie werden“. Grote äußerte sich anlässlich der Vorstellung des Jahresberichts 2020 des Hamburger Verfassungsschutzes.

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Der Senator betonte, kritische Haltungen gegenüber Corona-Maßnahmen oder gegenüber Regierungspolitik seien kein Thema für den Verfassungsschutz. Vielmehr gehe es "um radikale verschwörungsideologische Gruppierungen, die demokratisch gewählte Regierungen oder Abgeordnete insgesamt ablehnen und aggressiv bekämpfen".

Verfassungsschutz kann jetzt E-Mail-Verkehr überwachen

Mit der Einstufung als extremistischen Verdachtsfall kann der Verfassungsschutz nachrichtendienstliche Mittel anwenden, darunter die Überwachung des E-Mail-Verkehrs und das Anwerben von V-Leuten. Angesichts der zunehmend aggressiven Auftritte von Querdenkern diskutieren die Verfassungsschutzbehörden bundesweit, ob radikalisierte Coronaleugner als neue Spielart des Extremismus zu sehen oder dem rechten Spektrum zuzurechnen sind.
Der Verfassungsschutz von Baden-Württemberg hatte im Dezember die regionale Gruppierung „Querdenken 711“ zum Beobachtungsobjekt erklärt, vor allem wegen der engen Verbindungen zu Reichsbürgern und Rechtsextremisten. Von einem Extremismus „sui generis“ („eigener Art“) war nicht die Rede.

In Bayern gab es jetzt eine Art Zwischenlösung. Der Verfassungsschutz richtete vor zwei Wochen ein „Sammelbeobachtungsobjekt Sicherheitsgefährdende demokratiefeindliche Bestrebungen“ ein. In den Blick genommen werden keine Organisationen wie in Hamburg, sondern einzelne radikalisierte Coronaleugner und Verschwörungstheoretiker. Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) hat kürzlich angeregt, die Querdenker-Bewegung bundesweit vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall einstufen zu lassen.

"Querdenken 40" droht Schulleitern

In Hamburg sind die Indizien für verfassungsfeindliche Aktivitäten offenkundig, vor allem bei „Querdenken 40“. Die Zahl bezieht sich auf die Vorwahl der Hansestadt. Auf der Website wird unter anderem zum Internetauftritt von Ken Jebsen verlinkt, Ex-Radiomoderator und heute als Verschwörungstheoretiker aktiv.

Er behauptet, „wir können nachweisen, dass das Kanzleramt von einer korrupten Pharma-Clique gekapert wurde, deren Ziel es ist, die weltweiten Standards für Gesundheit zu diktieren, um so einen digitalen Kontrollstaat zu errichten“. Das Robert Koch-Institut, der Virologe Christian Drosten und Kanzlerin Angela Merkel seien „nur Figuren, die man benutzt, um eine perfide Agenda durchzudrücken“. Empfohlen wird zudem ein „Gesellschaftsfairvertrag“ der Gruppierung „Gemeinwohllobby“. Sie hat im November das „ganze deutsche Volk“ zur „Verfassungsgebenden Versammlung“ erklärt. Diese sei nicht an die Regelungen einer schon bestehenden Verfassung gebunden.

„Querdenken 40“ bietet zudem auf seiner Website „Musterbriefe“ an, unter anderem für Eltern schulpflichtiger Kinder. In einem Schreiben werden Schulleitern im Falle eines PCR-Tests bei Kindern rechtliche Schritte wegen Körperverletzung angedroht.

Enormer Anstieg linksextremer Gewalttaten

Sorgen bereitet dem Hamburger Verfassungsschutz auch das linksextreme Spektrum. Von den 1270 Personen der Szene seien 74 Prozent gewaltorientiert, sagte Amtsleiter Torsten Voß. Die Zahl der linksextremen Gewaltdelikte vervielfachte sich 2020 auf 162. Im Jahr zuvor waren es nur 15. Ein Grund ist ein Prozess gegen drei Anarchisten, der die Szene in Rage versetzt.

Gestiegen ist auch die Zahl der rechten Straftaten. Die Polizei registrierte 544 Delikte (2019: 453). Der Verfassungsschutz meldet zudem eine größere Zahl von Rechtsextremisten in Hamburg. Der Hauptgrund: da im März 2020 die AfD-Vereinigung "Flügel" als rechtsextremistisch eingestuft wurde, sind deren rund 40 Mitglieder jetzt eingerechnet. Das gesamte rechte Spektrum wuchs auf 380 Personen, 2019 waren es 330.

Auch bei den Islamisten nimmt die Neigung zu Militanz weiter zu. Der Verfassungsschutz spricht von 680 gewaltorientierten Salafisten und weiteren Islamisten. Das sind 75 mehr als 2019. Zulegen konnte vor allem die in Deutschland seit 2003 mit einem Betätigungsverbot belegte Vereinigung Hizb-ut-Tahrir (300 Anhänger, vorher 250). Die gesamte islamistische Szene zählt 1660 Personen (plus 15).

Auch Cyberspionage nimmt enorm zu

Gestiegen ist zudem die Zahl der Cyberangriffe. Meist stecken gegnerische Nachrichtendienste dahinter. Voß sprach von 60 Vorfällen im vergangenen Jahr, 2019 waren 29. In diesem Jahr habe der Verfassungsschutz bereits 80 Angriffe registriert, sagte der Amtsleiter. Besondere Angriffspunkte seien in der Hafenwirtschaft und maritimen Schifffahrt "hochmoderne, weitreichend vernetzte maritime Navigationssysteme und Smart-Port-Strukturen". Voß betonte, der Verfassungsschutz gehe direkt auf Betroffene zu. Grundsätzlich werde jeder Vorfall vertraulich behandelt.

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