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Teilnehmer einer rechten Demonstration in Chemnitz im September 2018

© Reuters/Matthias Rietschel

Verfassungsschutz schlägt Alarm: Extremisten dringen zur Mitte vor

Der Verfassungsschutz beobachtet eine schwindende Abgrenzung des Bürgertums gegen rechte und linke Feinde der Demokratie.

Von Frank Jansen

Die Bilder schockierten über Deutschland hinaus. Im Sommer 2017 randalierten Linksextremisten während des G-20-Gipfels in Hamburg, im Spätsommer 2018 zogen Rechtsextreme mit Wutgeschrei durch Chemnitz und attackierten Migranten. In beiden Fällen äußerten Teile des Bürgertums ihre Sympathie für die Extremisten. In Hamburg protestierten linke Demokraten gemeinsam mit Autonomen gegen das Treffen der Staats- und Regierungschef, in Chemnitz klatschten Normalbürger, wenn Neonazis ihre Parolen brüllten und den rechten Arm zum Hitlergruß hoben. Eine gegenläufige Entwicklung ist nicht in Sicht. Das beunruhigt den Verfassungsschutz.

„Wir müssen darauf achten, dass die Grenzen zwischen Extremisten und bürgerlichen Protestformen nicht weiter aufgeweicht werden“, mahnte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, am Montag in Berlin. Der Nachrichtendienst widmete sein 16. Symposium zu sicherheitspolitischen Fragen der „Mobilisierungsfähigkeit im politischen Extremismus“. Für Haldenwang und weitere Experten hat die Gefahr eine neue Qualität.

Über die sozialen Medien gelingt es Extremisten, viel schneller und weitflächiger als in den analogen Zeiten Propaganda, Ressentiments und „fake news“ zu verbreiten, bis in die bürgerliche Mitte hinein. Die Botschaften gegen ausbeuterische Konzerne oder gegen Muslime seien irgendwann vertraut, wenn sie einem permanent begegnen, warnte Haldenwang. Und er verwies auf die Fähigkeit der Extremisten, das Internet zu nutzen, um sich engmaschig zu vernetzen. Das war schon bei den Protesten gegen den G-20-Gipfel in Hamburg der Fall, doch überrascht hat die Sicherheitsbehörden vor allem die rasche, bundesweite Mobilisierung der rechten Szene zu den Protesten in Chemnitz. Tausende Neonazis, Hooligans und weitere Rassisten strömten fast wie auf Knopfdruck in die Stadt. Der sächsische Verfassungsschutz hatte gewarnt, doch Stadt und Freistaat ließen sich überrumpeln.

Uneinigkeit über Gesetzesentwurf zu Verfassungsschutz

Für Haldenwang kein Grund zur Resignation. Er wirbt beim Symposium dafür, das Frühwarnsystem Verfassungsschutz digital zu stärken. „Wir brauchen die ,Quellen-TKÜ’ auf Endgeräten und die Online-Durchsuchung“, sagte der Chef des Bundesamtes. Bei der „Quellen-Telekommunikationsüberwachung“ würde der Verfassungsschutz die Kommunikation auf dem Computer eines Verdächtigen mitschneiden, bevor dessen Botschaften verschlüsselt sind. Mit der Online-Durchsuchung könnte der Nachrichtendienst über einen Trojaner einen PC durchleuchten. Doch gestattet ist nichts.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat einen Gesetzentwurf erarbeiten lassen, er liegt dem Kabinett seit Monaten vor. Das SPD-geführte Justizministerium stellt sich quer. BMI-Staatssekretär Günter Krings reagierte beim Symposium sarkastisch: „Niemand sollte sonntags glaubhaft für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintreten, wenn er montags dem Verfassungsschutz die Mittel verweigert.

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