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Denkt Strategisch. Nicola Sturgeon, schottische Nationalistenführerin.

© dpa

Verdruss über Brexit-Politik von Johnson: Die schottische Sehnsucht nach Unabhängigkeit

Immer mehr Schotten wollen sich von London lossagen. Boris Johnson wirbt nun für das Vereinigte Königreich mit „Milliarden für den Norden“.

Der zunehmende Drang nach Unabhängigkeit sorgt für Verwerfungen in der schottischen Politik und Panik in der Downing Street. Weil die Nationalpartei SNP unter der Edinburgher Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon in Umfragen von Erfolg zu Erfolg eilt, hat Londons konservativer Premierminister Boris Johnson eine Stabsstelle zur Rettung des Vereinigten Königreiches eingerichtet.

Allerdings sind der britische Regierungschef und seine Brexit-Politik bei den Schotten zutiefst unbeliebt. Dass den Unionisten eine glaubwürdige Galionsfigur fehlt, räumte der regionale Tory-Chef am Donnerstag ein, indem er seinen Rücktritt erklärte.

Jüngste Umfragen für die Wahl zum schottischen Parlament, die in neun Monaten ansteht, sprechen der seit 13 Jahren regierenden SNP 55 Prozent zu; weit abgeschlagen folgen die Torys mit 20 Prozent vor der einst übermächtigen Labour Party, die schon über zweistellige Umfrageergebnisse froh ist.

Gemeinsam mit den ebenfalls zur Selbstständigkeit drängenden Grünen könnten die Nationalisten also mit einem klaren Mandat der Wähler eine erneute Volksabstimmung fordern. 2014 war diese noch klar mit 55:45 Prozent zugunsten der Union ausgegangen.

Wie damals bräuchte ein Referendum auch diesmal die Zustimmung des britischen Premiers. Dabei hat der Premier und selbst ernannte „Unionsminister“ angekündigt, er werde sein Plazet verweigern, ja entsprechende Anliegen aus Edinburgh ohne Antwort zurückgehen lassen.

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Johnson will nicht verlieren

Einer zweiten Volksabstimmung könne Johnson schon deshalb nicht zustimmen, „weil er Gefahr läuft, sie zu verlieren“, erläutert der Tory-Stratege und einstige Finanzminister George Osborne.

Dafür sprechen die jüngsten Umfragen: Seit Jahresbeginn lagen die Befürworter der Unabhängigkeit fast immer vorn, zuletzt mit 54 Prozent. Folge intensiver SNP-Propaganda? Keineswegs, analysiert Professorin Nicola McEwen von der Uni Edinburgh: „Die Regierungspartei ist vollkommen auf Covid konzentriert, über die Unabhängigkeit wird nicht debattiert.“

Die Juristin Sturgeon, 50, gilt als ebenso vorsichtig wie strategisch denkend, ihr Mann Peter Marrell lenkt als Generalsekretär die Partei straff, Debatten gelten als unerwünscht. Er fühle sich an „eine oligarchische Organisation“ erinnert, scherzt ein Edinburgher Parteiaktivist.

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Dass es sowohl an der Basis wie unter den Mandatsträgern brodelt, bewies am Freitag die „Lex Cherry“. Einer neuen Direktive des Parteivorstandes zufolge müssen Unterhausabgeordnete, die fürs schottische Parlament Holyrood kandidieren wollen, ihr Mandat mindestens zwei Monate vor der Wahl aufgeben.

Begründet wird dies mit der Notwendigkeit, die fällige Nachwahl zum Unterhaus zeitgleich zu organisieren. Für sie und ihr Parlamentsteam aber würde die Regelung die Arbeitslosigkeit bedeuten, empörte sich Joanna Cherry, Unterhausabgeordnete eines Edinburgher Wahlkreises, und zog ihre Holyrood-Kandidatur zurück. Cherry gilt als Galionsfigur jener SNP-Mitglieder, die beim Ringen um die Unabhängigkeit auf größere Eile drängen.

Bisher amtiert als Abgeordnete für Edinburgh Central die charismatische Konservative Ruth Davidson. Die 41-Jährige leitete die regionalen Torys acht Jahre lang und führte sie aus der Talsohle, ehe sie vergangenen Sommer überraschend den Vorsitz hinwarf.

Wie ein Mühlstein

Offiziell begründete die gelernte Journalistin diesen Schritt mit ihrem damals knapp einjährigen Sohn; in Wirklichkeit dürfte Johnsons Brexit-Politik den Ausschlag gegeben haben.

Person und Amtsführung des Premierministers hingen wie ein Mühlstein auch um den Hals von Jackson Carlaw, Davidsons Nachfolger als Bezirksparteichef. Er wolle einem jüngeren Gesicht Platz machen, begründete der 61-Jährige am Donnerstag seinen Rücktritt nach nur fünf Monaten.

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Als Favorit auf die Nachfolge gilt der Landwirt und Fußballschiedsrichter Douglas Ross (37), der sich als Kritiker an Johnson profiliert hat.

Distanz zum ungeliebten weißblonden Engländer wird brauchen, wer in Schottland für die seit 1707 geltende Union mit England werben will. Der Premierminister versuchte dies jetzt mit einem Blitzbesuch auf den Orkney-Inseln: In der Corona-Pandemie pumpe Westminster viele Milliarden in den Norden, der Brexit werde der schottischen Fischerei Reichtümer bringen.

Das Winken mit Londoner Pfundscheinen aber hält „Times“-Kolumnist Alex Massie für falsch. Der EU-Austritt sei mit Argumenten für „Souveränität und Identität“ gewonnen worden, „und das ist heute genauso“.

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