zum Hauptinhalt
Privater Verlust, politische Initiative: Die FDP-Abgeordnete Maren Jasper-Winter verlor einst in der Schwangerschaft ihre Tochter. Nun hat sie sich in den Koalitionsverhandlungen für andere Betroffene eingesetzt.

© Doris Spiekermann-Klaas

Verbesserte Rechtslage nach Fehl- und Totgeburt: „Die wahre Stille beginnt erst in der leeren Wohnung“

Die Ampel plant mehr Unterstützung für Eltern nach Fehl- und Totgeburt. Die Initiative kam von einer Abgeordneten, die selbst ihre Tochter verlor.

Als die FDP-Politikerin Maren Jasper-Winter im Jahr 2014 gemeinsam mit ihrem Mann vor ihrer Wohnung aus dem Auto stieg, wollte sie niemanden sprechen, keinen Menschen sehen. Schon gar nicht den Nachbarn, der zufällig am Eingang stand. Vor wenigen Tagen noch war sie mit Zwillingen schwanger gewesen, in der 31. Woche. Nun lag ihr Sohn verkabelt und überwacht auf der Neugeborenen-Intensivstation, ein Frühchen. Ihre Tochter aber war tot zur Welt gekommen.

Sie schickte ihren Mann vor, um kurz zu erklären, was geschehen war. Er erfuhr: Dem Nachbarn und dessen Ehefrau war vor Jahren Ähnliches passiert. Auch sie hatten ein Kind verloren. Ihr Beileid kam aus tiefstem Herzen. Da spürte Jasper-Winter, sie und ihr Mann waren nicht allein, sogar in diesem Moment des Schocks und der tiefsten Trauer.

Heute, Jahre nach ihrem Verlust, wurde das, was sie privat durchleben musste, zum Anlass für eine politische Initiative. Bei den Koalitionsverhandlungen der Ampel gehörte Jasper-Winter, Mitglied des FDP-Bundesvorstands und des Berliner Abgeordnetenhauses, zur Arbeitsgruppe „Kinder, Familie, Senioren und Jugend“. Sie brachte eine Idee ein, auf die sich die Parteien rasch einigen konnten: Die Ampel will die rechtliche Situation von Eltern, die in der Schwangerschaft ein Kind verlieren, verbessern.

"Es geht auch um das Signal an die Betroffenen"

Bisher haben Mütter, die ein totes Kind zur Welt bringen, nur dann Anspruch auf Mutterschutz, wenn mindestens die 24. Schwangerschaftswoche oder ein Geburtsgewicht von 500 Gramm erreicht sind. Dann ist rechtlich von einer Totgeburt die Rede. Nach einer Fehlgeburt hingegen besteht kein Anspruch auf Mutterschutz, also wenn die Geburt vor der 24. Woche stattfand und das Kind weniger als 500 Gramm wog. Das soll sich ändern. Anspruch auf Mutterschutz sollen künftig alle Frauen haben, die nach der 20. Schwangerschaftswoche eine Fehl- oder Totgeburt erleiden. So bekämen mehr Frauen als bisher die Zeit und den Raum sowohl für Trauer als auch für die körperliche Erholung und Rückbildung.

Je weiter eine Schwangerschaft fortgeschritten ist, desto größer ist die körperliche Beanspruchung der Frau, wenn sie ihr Kind verliert. Wenn ein Kind beispielsweise in der 22. Schwangerschaftswoche im Bauch seiner Mutter stirbt, muss die Schwangere es zur Welt bringen, ob vaginal oder per Kaiserschnitt – ein körperlich wie psychisch in der Regel höchst belastendes Erlebnis.

Zwar können Frauen nach einem solchen Ereignis krankgeschrieben werden. Jasper-Winter hält aber das automatische Gelten des Mutterschutzes, ohne dass Frauen sich erklären oder um eine längere Auszeit bitten müssen, für besser. „Es geht auch um das Signal an die Betroffenen: Wir erkennen eure besondere Schutzbedürftigkeit an.“

Die Neuregelung käme auch den Partner:innen zugute. Der Koalitionsvertrag sieht vor, für sie eine zweiwöchige vergütete Freistellung nach jeder Geburt einzuführen. Dies soll auch im Fall einer Fehl- oder Totgeburt nach der 20. Woche gelten. „Geltende Rechtslage ist, dass der Partner einer Schwangeren am Tag nach einer Totgeburt wieder ganz normal zur Arbeit gehen muss. Das halten wir für nicht zumutbar“, sagt Jasper-Winter.

Die wahre Stille beginnt erst in der leeren Wohnung

Bei ihr waren zwei Jahre vergangen, als sie am Grab ihrer Tochter einen Bekannten traf. „Du kommst immer noch täglich her?“ Er war höchst erstaunt. Die ausgesprochene oder implizite Erwartung des Umfelds, nun bitte zum Alltag zurückzukehren, kann Betroffene zusätzlich belasten. „Wir sprechen von stiller Geburt, weil kein Babyschrei zu hören ist. Aber die wahre Stille beginnt für Eltern erst, wenn sie ohne Kind in eine leere Wohnung heimkommen“, sagt Jasper-Winter.

Sie hält es für wichtig, dass über das Thema in der Gesellschaft offener als bisher gesprochen wird. Dazu würde für sie auch gehören, offensiver als bislang Schwangere von Anfang an darüber zu informieren, wo und wie sie Hilfe bekommen, falls die Schwangerschaft nicht glücklich endet. Sie selbst war damals täglich auf der Intensivstation bei ihrem Sohn. So stand sie im engen Austausch mit Hebammen und Krankenschwestern. „Ohne diese seelische und praktische Unterstützung wären wir völlig überfordert gewesen“, sagt sie.

[Lesen Sie mehr bei Tagesspiegel Plus: Warum psychische Begleitung wichtig ist - "Fehlgeburten sind ein Tabu"]

Nach Ansicht von Kathrin Schreier, Geschäftsführerin des Bundesverbands Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland, fehlt es an dieser Unterstützung noch viel zu oft. „Wir erleben regelmäßig, dass Eltern ganz mangelhaft betreut werden“, sagt sie. „Es gibt Kinder, die in Kliniken tot in Toilettenbecken plumpsen, weil die Mütter alleingelassen werden. Es müsste in jeder Geburtsklinik immer jemand ansprechbar sein, der sich mit dem Thema auskennt und den Eltern alle Informationen an die Hand gibt. Aber davon sind wir noch weit entfernt.“

Die geplante Neuregelung der Ampelkoalitionäre hält Schreier für richtig. Außerdem sollte aus ihrer Sicht die Frage, wie Eltern im Fall einer Fehl- oder Totgeburt zu begleiten sind, eine größere Rolle in der Ausbildung der Ärztinnen und Ärzte spielen. Das Bewusstsein für das Thema wachse derzeit – aber viel zu langsam.

Viele Eltern bleiben mit ihrer Trauer bald alleine zurück

Frauen ist oft nicht einmal bewusst, dass sie im Fall einer Fehlgeburt in jedem Stadium der Schwangerschaft Anspruch auf Hebammenbetreuung haben. Dabei brauchen viele Betroffene nicht nur Unterstützung, um ihre Trauer zu verarbeiten. Es stellen sich auch ganz medizinisch-praktische Fragen – im Fall eines frühen Verlusts der Schwangerschaft etwa zum Umgang mit der sehr starken Fehlgeburtsblutung und den Wehenschmerzen, die je nachdem, in welcher Woche eine Schwangerschaft endet, in unterschiedlicher Heftigkeit auftreten.

Ein Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe untersucht in seiner Praxis für pränatale Diagnostik und Ultraschall in Berlin eine im dritten Monat schwangere Frau.
Undenkbar, unfassbar: Bei der Ultraschall-Untersuchung während der Schwangerschaft erfahren manche werdende Mütter die denkbar schlimmsten Nachrichten.

© Patrick Pleul/dpa

„Wenn ein Kind an Krebs oder durch einen Unfall stirbt, ist die Anteilnahme des Umfelds natürlich sehr groß“, sagt Schreier. „Die Kinder aber, die vor der Geburt versterben, kannte niemand persönlich. Auch deshalb bleiben viele Eltern mit ihrer Trauer bald alleine zurück.“

Im Jahr 2020 kamen in Deutschland rund 773 000 Kinder lebend zur Welt – und es gab 3162 Totgeburten. Dagegen ist eine Fehlgeburt kein seltenes Erlebnis, insbesondere in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen. Wie Betroffene dies erleben und wie stark sie um ihr verlorenes Kind trauern, ist sehr unterschiedlich. Jasper-Winter kann sich weitere Initiativen vorstellen, die auch die Situation von Frauen nach einer früheren Fehlgeburt verbessern würden. Denkbar wäre etwa ein gestaffelter Mutterschutz, je nachdem, in welcher Woche eine Schwangerschaft endet.

Auch in Folgeschwangerschaften nach dem Verlust eines Kindes ist der Bedarf nach Unterstützung oft groß, viele werdende Eltern stehen enorme Ängste durch. Auch dann ist es Jasper-Winters Einschätzung nach oft noch Glückssache, ob Betroffene an einfühlsame Ärzt:innen und Hebammen geraten, die sie in ihrer besonderen Situation bestmöglich unterstützen – oder nicht.

Auch Jasper-Winter selbst hat eine weitere Schwangerschaft gewagt. Ihr erstgeborener Sohn hat mittlerweile einen kleinen Bruder. Das Grab ihrer verstorbenen Tochter ist für Jasper-Winter zu einem Ort der Einkehr geworden. Dort hat die Trauer ihren Platz. Manchmal kommen sie und ihr Mann mit ihren Söhnen her. Dann legen sie gemeinsam Blumen aufs Grab. Die beiden Jungen wissen: Hier liegt unsere Schwester, und auch sie gehört zu uns.

Zur Startseite