zum Hauptinhalt
Ein Jahr nach dem Amoklauf schrieben die Trauernden ihre Gedanken auf Steine.

© dapd

Vater eines Winnenden-Opfers: Was bleibt, wenn das Kind getötet wurde

Irgendwann dachte er: „Ich kann weiterleben“. Doch alles holt ihn immer wieder ein. Uwe Schills Tochter Chantal starb beim Amoklauf von Winnenden. Der Vater des Täters ist jetzt verurteilt worden. Der Vater des Opfers sucht weiter nach Antworten.

Es sind jetzt wieder diese Tage. Diese Tage im Februar, die kalt und nebelverhangen sind, an denen man aber schon ahnt, dass etwas anderes kommt, Licht, Wärme, Grün. Uwe Schill hat sie immer gemocht, diese Zeit zwischen Winter und Frühling. Bis zu jenem 11. März 2009, als seine Tochter Chantal in ihrer Schulklasse vom Amokläufer Tim K. erschossen wurde. Seither sind es die Tage, an denen alles auf den Tod zuläuft.

Schill will sich am Bahnhof von Schorndorf treffen, einem Städtchen mit hübschen Fachwerkhäusern. Weit genug entfernt von Winnenden und der Albertville-Realschule, dem Tatort, der jetzt rundherum erneuert ist, mit viel Holz und Glas, dazu Alarmknöpfe in jedem Raum und Türen, die man von innen verriegeln kann. Entfernt auch von Weiler zum Stein, wo Chantal begraben ist, in ihrem Lieblingskleid, schwarz, mit roten Einsätzen. Ihre beiden Freundinnen, Jana und Chrissy, liegen in den Gräbern neben ihr. Die vierte Freundin aus der Clique, Elena, hat mit Schussverletzungen überlebt. Chantal war 15 Jahre alt.

Uwe Schill ist 49. Er kommt in einer schweren Lederjacke und Motorradstiefeln. Als sei er jederzeit bereit, sich aufzumachen, woandershin. Später wird Schill die „Toten Hosen“ zitieren. „Nimm nichts mit, wir brauchen nichts. Lass alles hier und schmeiß es weg. All die Souvenirs, unsere Biographien. Nur lästiges Übergewicht.“ Das Lied heißt „Reiß dich los“.

Gerade ist Schill wieder auf dem Sprung, er will drei Tage auf dem Jakobsweg pilgern, von Würzburg aus. Er hat das schon mal gemacht, ist über Konstanz, Interlaken und Genf nach Le Puy-en-Velay in Frankreich gewandert. Vier Wochen lang, das war im Spätsommer 2009, „nach dem Geschehen“, wie Uwe Schill sagt. Er habe das Pilgern genossen, bis auf manche Tage in der Schweiz. Wo er an Schießplätzen vorbeikam oder bei Leuten übernachtete, die an ihren Garderobenhaken keine Kleider hatten, sondern Waffen.

Mit Chantal teilte Uwe Schill die Liebe zu Motorrädern. Seine letzte schöne Erinnerung ist die gemeinsame Tour im Februar 2009.
Mit Chantal teilte Uwe Schill die Liebe zu Motorrädern. Seine letzte schöne Erinnerung ist die gemeinsame Tour im Februar 2009.

© privat

Der Himmel ist milchig weiß, auf den Straßen taut der Schnee. In einem Café steuert Uwe Schill auf einen Nebenraum zu, in dem niemand sitzt. Immer wieder zieht er ein Taschentuch aus der Hosentasche, tupft Tränen ab. Die vergangenen Jahre haben tiefe Furchen in seinem Gesicht hinterlassen. Uwe Schill sagt, er habe viel Geld investiert seit 2009, um „alternative Hilfe“ zu finden. Für Logotherapie, psychologische Gespräche und eine Traumatherapie, bei der durch rhythmische Augenbewegungen die beiden Gehirnhälften in Verbindung gebracht werden sollen.

Derzeit sei es besonders schlimm. Am Freitag ging der Prozess gegen den Vater von Tim K. zu Ende, der zweite schon, das Urteil vom Februar 2011 war wegen eines Verfahrensfehlers aufgehoben worden. Jörg K. wurde abermals verurteilt, zu eineinhalb Jahren auf Bewährung. Weil es seine Waffe war, die der 17-jährige Tim K. dabei hatte, als er am Morgen des 11. März mit dem Bus zu seiner früheren Schule nach Winnenden fuhr.

113 Mal hat Tim K. gefeuert, die Waffe, eine Beretta, lag im Elternschlafzimmer, ungesichert. Und das, obwohl er in Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie war. Einer Therapeutin hatte er anvertraut, er wolle die ganze Welt umbringen. Ob die Eltern davon wussten, ist bis heute nicht geklärt. Fest steht, dass Jörg K. seinen Sohn ermunterte, mit der Beretta zu trainieren, und ihn mit zum Schießstand nahm. Damit Tim unter Leute kommt.

Schill war insgesamt zwei Mal beim Prozess in Stuttgart. Wie all die anderen Eltern und Verwandten der acht Mädchen, des Jungen, der drei Lehrerinnen und der drei Passanten, die Tim erschossen hatte. Schill kannte Tims Schwester, sie war bis zur 7. Klasse mit Chantal befreundet. Er nahm sie mit zum Schlittenfahren und in einen Vergnügungspark, „sie ist hochintelligent, sie konnte reden, auf Leute zugehen, alles, was Tim nicht konnte“.

Im Gerichtssaal sah er Jörg K., wie er neben seinen drei Verteidigern saß und nichts sagte. Nichts über sich als Vater, nichts über die Probleme seines Sohnes, die zu dem Amoklauf führten. „Es wäre leichter für mich, wenn er zugeben würde: Ich habe Fehler gemacht, es tut mir leid. Dann könnte ich versuchen, ihm zu vergeben“, sagt Schill. Er würde das gerne: vergeben, abschließen.

Vor dem Amoklauf war Uwe Schull Maschinenbautechniker, jetzt ist er berentet und getrennt von seiner Frau.
Vor dem Amoklauf war Uwe Schull Maschinenbautechniker, jetzt ist er berentet und getrennt von seiner Frau.

© privat

Wenige Wochen, bevor sich der Amoklauf zum vierten Mal jährt, ist er jedoch weit davon entfernt. Es wird neue Prozesse geben. Die Stadt Winnenden und das Land Baden-Württemberg wollen Schadensersatz vom Vater des Täters. Wegen der Polizisten etwa, die schwer verletzt wurden, als sie sich Tim K. in den Weg stellen wollten, bevor er sich selbst erschoss. Jörg K. kann Revision gegen sein Urteil einlegen, auch wenn ihn der Richter nach der Urteilsbegründung am vergangenen Freitag bat, davon abzusehen. Er solle bedenken, was er den Angehörigen damit antue.

Sicher ist, dass Jörg K. die psychiatrische Klinik verklagen will, in der sein Sohn in Behandlung war. Die Ärzte hätten die Gefahr erkennen müssen, sagt sein Rechtsanwalt. Der Streitwert liegt bei 8,8 Millionen Euro. Geld, das Jörg K. den Angehörigen der Opfer zukommen lassen würde. Tagelang habe ihn das aufgewühlt, sagt Uwe Schill. Dass K. „mit dem Geld, das er von der Klinik einklagen will, beabsichtigt, uns Angehörige zu kaufen“. Dass Jörg K. seine Schuld auf die Ärzte abwälzen wolle. Dass es auch eine Geste der Wiedergutmachung sein könnte, daran denkt Schill nicht.

Schill erwähnt noch einen Rocksong. „Scharlachrotes Kleid“ von der Gruppe „Eisregen“, das Lieblingslied von Chantal. Es geht um ein Mädchen, das, von einer Kugel getroffen, im Grab liegt. Schill erzählt das sachlich, als erkläre das etwas. Im März 2009 hatte Chantal Karten für ein Musikfestival im darauffolgenden Sommer, ihr erstes. Schill ging dann mit seiner Frau hin. Er ging auch auf ein Konzert der „Toten Hosen“, die den Opfern von Winnenden das Lied „Nur zu Besuch“ widmeten. Es handelt von einem Mädchen, das Besuch auf dem Friedhof bekommt. Das Kleid, in dem Chantal begraben ist, fällt ihm wieder ein, „eine Mischung aus Mittelalter und Gothic“, verziert mit schwarzen Rüschen und Spitzen. Sie habe es nur zu Hause getragen, weil sie sich damit nicht hinaustraute.

Das Leben wäre dann erst richtig losgegangen.

„Das wäre dann alles losgegangen“, sagt Uwe Schill, und meint das Leben. Er sagt „Mädle“, wenn er über Chantal spricht. Er holt sein Handy hervor und zeigt ein Foto von Chantal. Man sieht ein Mädchen mit blauen Augen, das schwarz gefärbte Haar fällt ihr in die Stirn. In ihrem Gesicht die Pubertät, diese Mischung aus Melancholie und Leuchten, die so ist wie diese Tage zwischen Winter und Frühling. Man weiß, dass man eine schwere Zeit hat. Und ahnt zugleich, dass das Beste vor einem liegt.

Schill scrollt die Fotos durch, minutenlang. Als könne er dort eine Antwort finden. „Am Anfang dachte ich, es ist mir gleich, wie sie starb, sie ist tot. Inzwischen ist mir das nicht mehr egal.“ Seine Frau hat sich nach der Tat mit Tims Mutter getroffen, in einem Café, das kam über die Anwälte zustande. Tims Mutter sagte ihr, sie sei immer gegen die Waffen im Haus gewesen, andere Antworten hatte sie nicht. Schill scrollt weiter, auf einem Foto ist er selbst. Ein Mann mit einem glatten, vollen Gesicht, der Maschinenbautechniker, der Uwe Schill bis 2009 war. Er hat Gasstationen und Trinkwasseranlagen geplant. Seit zwei Jahren ist er wegen Arbeitsunfähigkeit berentet.

Manchmal denkt Uwe Schill, er würde sich gerne mit den Eltern der Opfer austauschen. „Andererseits sind wir nur durch den Amoklauf eine Gemeinschaft geworden, sonst hätten wir uns nicht getroffen. Außer dem gewaltsamen Tod unserer Kinder haben wir kaum etwas gemeinsam.“ Schill beobachtet aus der Ferne, wie es anderen Angehörigen ergeht. Ein paar haben nach dem Amoklauf Bücher geschrieben, eine Mission gefunden. Das Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden etwa, das für eine Verschärfung der Waffengesetze eintritt. So wie in Großbritannien nach dem Amoklauf an einer Schule im schottischen Dunblane 1996, bei dem sechzehn Kinder erschossen wurden. Ein Jahr später wurden sämtliche privaten Faustfeuerwaffen verboten.

Aber die meisten Eltern würden wohl dasselbe erzählen wie Uwe Schill: typische Geschichten von Verbrechensopfern, Geschichten von zerstörten Leben. Einer Mutter geht es gesundheitlich sehr schlecht, die Eltern einer getöteten Lehrerin haben sich mit ihrem Schwiegersohn zerstritten. Uwe Schills Ehe ist zerbrochen, „unschön“, wie er sagt. Die beiden erwachsenen Söhne wollen nicht über die tote Schwester sprechen.

Seine letzte schöne Erinnerung sei die Tour, die er mit Chantal gemacht habe. Schill nahm seine Tochter auf dem Motorrad mit, zu einer Motorradmesse. Chantal interessierte sich für Ducati-Maschinen. Als sie losfuhren, lag noch der Schnee. Es war Februar 2009, danach kam nur mehr der Tod.

„Irgendwann dachte ich, ich kann das einordnen, ich kann weiterleben. Doch dann holt mich alles wieder ein.“ Wenn wieder ein Amoklauf passiert, wie im Dezember im amerikanischen Newtown. Ein 20-jähriger Amokläufer erschoss an der Sandy-Hook-Grundschule 28 Menschen, darunter 20 kleine Kinder. Am Tag darauf sah Schill in der Zeitung das Bild einer Frau vor der Schule, „das Handy in der Hand, im Gesicht das blanke Entsetzen. Ich wusste genau, wie sie sich fühlt.“

Am 11. März 2009 rief ihn seine Frau an, an der Schule gebe es einen Amoklauf. Schill fuhr zur Albertville-Realschule, er wollte Chantal abholen. Ein Mädchen begann zu weinen, als es ihn kommen sah. Schill dachte sich nichts dabei, lief weiter. Fragte Mitschüler, Polizisten, den Einsatzleiter nach Chantal, keiner sagte ihm etwas. Er rief auf Chantals Handy an, niemand ging ran, nur die Mailbox mit ihrer Stimme und „dem glucksenden Lachen“. Später erfuhr er von einem Polizisten, dass am Tatort ständig ein Handy geklingelt habe, und auf dem Display leuchtete „Papa“ auf.

Chantal war in den Rücken geschossen worden. Man fand sie in Raum 305, nach vorne auf den Tisch gekippt. Ihre Freundin Jana lag auf dem Boden, ihre Freundin Chrissy tot auf ihrem Schoß.

Es kommen jetzt wieder diese Tage. Schill will sie möglichst gut herumbringen. Der 13. Januar war Chantals Geburtstag, da war Schill auf einem Rockkonzert. Wenn es wärmer wird, will er los, mit dem Motorrad in die Pyrenäen, später in die Karpaten. Er vertrage keinen Alltag mehr, sagt er, keine Routine. Und er will zur Motorradmesse, auf der er mit seiner Tochter war, jedes Jahr war er dort, „das ist etwas Besonderes für mich“. Diesmal fällt sie auf die zwei Tage vor dem 11. März.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false