zum Hauptinhalt
Bernie Sanders war der Ausgebootete – jetzt ist er der aussichtsreichste Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur 2020.

© picture alliance / Andrew Harnik

USA: Krise der Demokratischen Partei: Zweite Wahl: Bernie Sanders

Das erste Rennen verlor er schon auf halber Strecke. Beim nächsten Mal wäre er fast 80. Und doch ist Bernie Sanders die Hoffnung der Demokraten. Vielleicht ihre einzige. Gegen Donald Trump wirkt die Opposition hilfloser denn je.

Mal sind 60 Leute da, manchmal nur eine Handvoll. Es kommt vor, dass Autofahrer, die an der Ampel halten, ihnen „Gott segne euch“ zurufen. Andere zeigen den ausgestreckten Mittelfinger. Die Menschen recken Transparente hoch und schwenken amerikanische Flaggen. Der Schauplatz ist jede Woche der Gleiche: Die Kreuzung Williams Street/ Blue&Gray Parkway in Fredericksburg, Virginia. Eine Kleinstadt 50 Meilen südlich von Washington.

„Vereint stehen wir für Liebe und Frieden“, heißt es auf den Plakaten. Aber auch: „Wenn du dich nicht aufregst, zeigt das nur, dass du nicht aufpasst“ – ein Zitat jener jungen Frau, die beim Aufmarsch von Charlottesville im August von einem mutmaßlichen Neonazi überfahren wurde. Mittendrin in der Gruppe in Virginia steht die 66-jährige Shelley Pineo-Jensen. Ihr Ziel ist die Machtübernahme.

Als Teenager warb Pineo-Jensen in den Sechzigerjahren für Robert Kennedy. Seitdem hat sie sich immer wieder treu für die Demokraten engagiert. Jetzt ist die ehemalige Lehrerin eine der Organisatorinnen dieser wöchentlichen Demonstration, die stattfindet, seit der neue Präsident Donald Trump im Januar seinen Amtseid geleistet hat.

Mit Clinton ist doch Trump nicht zu begegnen

Diesmal ist etwas anders. Diesmal steht sie hier weniger für die Demokraten, oder gegen Trump – obwohl das zweifellos Grund genug wäre. „Dem würde ich nicht mal meine Fernbedienung anvertrauen.“ Diesmal protestiert sie gegen Mitglieder der eigenen Partei. „Abgehalfterte Besitzstandswahrer“, sagt sie über Hillary Clinton und ihre Anhänger. Mit denen sei doch Trump nicht zu begegnen, diesem Wahnsinnigen, der jetzt über die Codes für den Atomwaffeneinsatz verfügt. Dem muss man schon etwas anderes entgegensetzen, und sie weiß, was. Seit Jahren, Jahrzehnten, ja vielleicht seit Robert Kennedy hat sie sich nicht mehr so begeistert wie jetzt. „Die Zeit ist reif“, sagt Pineo-Jensen. „Für die Progressiven.“ Sie meint: für Bernie Sanders.

Sanders, der linke Senator aus Vermont, offiziell parteilos und informeller Anführer des linken Flügels der Demokraten. Sanders, der gegen Hillary Clinton den Kampf um die Präsidentschaftskandidatur verlor. Ausgerechnet Sanders?

Shelley Pineo-Jensen wirbt in Virginia auf der Straße für die „Progressiven“.
Shelley Pineo-Jensen wirbt in Virginia auf der Straße für die „Progressiven“.

© promo

Der neue Präsident leistet sich einen Skandal nach dem anderen, er nimmt Rechtsextremisten in Schutz, droht Nordkorea vor den Vereinten Nationen mit Krieg, und er hat die schlechtesten Zustimmungsraten aller modernen Präsidenten. Zuletzt legte sich Trump mit dem einflussreichen republikanischen Senator Bob Corker an, der dem Präsidenten geistige Umnachtung unterstellte und höhnte, dass das Weiße Haus „zu einem Pflegeheim für Erwachsene“ geworden sei. Corker habe im Senat wesentlich mehr Freunde als Trump, melden die Zeitungen: Wie der Präsident, der zudem durch die Russland-Affäre angeschlagen ist, inmitten all dieser Skandale und Scharmützel sein Gesetzgebungsprogramm mit Gesundheits- und Steuerreform und Neuordnung der Einwanderungspolitik durchs Parlament bringen will, weiß niemand. Dazu kommt der offen ausgetragene Zoff innerhalb der Regierung. Außenminister Rex Tillerson soll Trump einen „beschissenen Schwachkopf“ genannt haben. In Washington wird nicht mehr darüber diskutiert, ob Tillerson im Amt bleibt, sondern nur noch darüber, wann der Minister gefeuert wird.

Ein Krieg mit hundert Fronten

Die Opposition jedoch scheint unfähig, daraus Kapital zu schlagen. Gegen einen Präsidenten und eine republikanische Partei, die in Washington trotz parlamentarischer Mehrheit fast nichts auf die Reihe bekommen, wirken die Demokraten hilfloser denn je.

Wie in Fredericksburg finden sich tausende von Kleinstgruppen in ganz Amerika zusammen, um an der Basis den Widerstand gegen Trump und den Richtungswechsel bei den Demokraten zu organisieren. „Es ist ein Krieg mit hunderten von Fronten“, schreibt die linksliberale Zeitschrift „The Nation“. Einer, der die Demokraten spaltet, beschäftigt und gleichzeitig lähmt – und davon abhält, das Naheliegendste zu tun: Trump zu stürzen. Es könnte Teil des Problems sein, dass sie in dieser Situation einen zur Lichtgestalt ausgerufen haben, der zuletzt als Verlierer aus dem Scheinwerferlicht getreten war.

500 Meilen nördlich von Fredericksburg fuchtelt Bernie Sanders mit den Armen wie ein Dirigent, der vom Pult aus die Einsätze gibt. „Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht“, ruft er, und seine Zuhörer springen klatschend von ihren Plätzen auf. Fellowship Church, Detroit: Der Auftritt ein gutes halbes Jahr nach dem Amtsantritt von Donald Trump wirkt wie ein Wahlkampfauftritt - und das ist er wohl auch.

Aber was läuft schon noch wie üblich in diesem Land?

Sanders, der Ausgebootete, ist ständig im Land unterwegs. Hält flammende Reden, unterstützt Gleichgesinnte bei lokalen Wahlen. Es ist kaum zu missdeuten: Sanders läuft sich für die Präsidentschaftswahl im Jahr 2020 warm.

Reichlich früh. Viel früher als üblich. Aber was läuft schon noch wie üblich in diesem Land? Der Kampf um das höchste Staatsamt und die Kandidatur der Demokraten, schreibt die „New York Times“, könnte der längste und teuerste der Geschichte werden.

Bernie Sanders ist gerade 76 Jahre alt geworden. Bei einem Wahlsieg zöge er als fast 80-Jähriger ins Weiße Haus ein. Er ist in mehrfacher Hinsicht also, kann man sagen, nicht mehr ganz frisch.

In Fredericksburg kandidieren Sanders-Anhänger für Posten bei der Schulbehörde und Sitze im Stadtrat. Der Plan lautet, erst die Institutionen, danach die Macht in der Partei zu erobern. Das Argument, die Progressiven seien für den Geschmack der meisten US-Wähler zu weit links, lässt Shelley Pineo-Jensen nicht gelten. Clinton habe letztes Jahr doch versucht, in der Mitte die Wahl zu gewinnen. „Das hat ganz offensichtlich nicht funktioniert.“

In ihrem jüngst erschienenen Buch „What happened“, „Was geschehen ist“, oder auch „Was ist geschehen?“ beschreibt Hillary Clinton die Niederlage aus ihrer Sicht. Sie versucht, zu verstehen, versucht, sich zu rechtfertigen - und rechnet mit Bernie Sanders ab. Er habe ihr im Wahlkampf nachhaltig geschadet, sei angetreten, um die Demokratische Partei zu zerstören, klagt sie an. „Nach der Wahl schlug Bernie vor, die Demokraten sollten auch offen dafür sein, Kandidaten zu unterstützen, die gegen das Recht auf Abtreibung sind“, macht sie Stimmung. Wirtschaftliche Gerechtigkeit sei unverhandelbar, „die Gesundheit von Frauen offenbar nicht“.

In Montana verprügelte ein Parlamentskandidat einen Journalisten

Bei seinen Reden und in seinen Büchern propagiert Sanders nichts Geringeres als die Revolution. Allein: Bisher hat diese Idee keine einzige Wahl nach Trumps Amtsantritt gewinnen können. In Montana verprügelte der republikanische Parlamentskandidat Greg Gianforte vor der Abstimmung sogar einen Journalisten - und siegte trotzdem über seinen demokratischen Rivalen Rob Quist.

Zwei prominente Konkurrenten von Sanders im Kampf um die Präsidentschaftskandidatur sind die Senatorin Elizabeth Warren, 68, und der ehemalige Vizepräsident Joe Biden, 74. „Sieht aus wie im Altersheim“, spottet sogar der frühere Fraktionschef der Demokraten im Senat, Harry Reid, 77, über das personelle Angebot seiner Partei.

Dass Sanders seine Rede in einer Kirche in Detroit hält, ist kein Zufall. Der Bundesstaat Michigan fiel im vergangenen Jahr an Trump - und ebnete damit dem Immobilienmilliardär den Weg ins Weiße Haus. Wie Trump wendet sich Sanders an die untere Mittelschicht, die Globalisierungsverlierer, die einfachen Leute. Und er scheint damit zumindest in den Umfragen Erfolg zu haben: Dort ist Sanders derzeit der beliebteste Politiker im Land.

Das bedeutet nicht, dass die Amerikaner ihn auch zum Präsidenten wählen würden. Vielleicht bedeutet es bloß, dass die anderen noch unbeliebter sind.

George Clooney - oder gar ein ehemaliger Wrestling-Star?

Natürlich gibt es Demokraten, die nach einem neuen Barack Obama rufen. Einem, der die versprengten Truppen der Opposition sammelt und gemeinsam gegen Trump in die Schlacht führt. Tatsächlich: Der frühere Präsident selbst soll sich einen Wunschkandidaten ausgeguckt haben. Deval Patrick, einen afro-amerikanischen Bürgerrechtsanwalt, der bis vor zwei Jahren Gouverneur von Massachusetts war. Obama halte den 61-Jährigen für ein politisches Ausnahmetalent, berichtet das Magazin „Politico“.

Andere suchen nach einem Retter außerhalb der Politik, der Trump bei der nächsten Wahl herausfordern und besiegen kann. Filmstar George Clooney soll mit dem Gedanken an eine Kandidatur spielen. Auch auf den muskelbepackten vormaligen Wrestling-Star und heutigen Hollywood-Schauspieler Dwayne Johnson richten sich viele Blicke. Johnson, genannt „The Rock“: der Fels. In einem Interview zeigte sich Johnson geschmeichelt von den Gerüchten und heizte damit die Spekulationen noch mehr an.

„Rock“-Fans haben bei der Wahlbehörde sogar schon ein Unterstützungskomitee für ihren Star angemeldet. Ganz verrückt ist der Gedanke nicht - schließlich hatten die Amerikaner mit Ronald Reagan bereits einen Schauspieler im Weißen Haus. An illustren Namen mangelt es den Demokraten also nicht. Und doch fällt am Ende immer wieder der eine: Sanders.

Die Clinton-Leute haben die Posten und das Geld

In jüngster Zeit mehren sich die Anzeichen, dass Sanders tatsächlich an Zustimmung in der Partei gewinnt. Die Progressiven wollen einen Linksruck durchsetzen, sie wollen Großkonzerne und Großverdiener höher besteuern, den Klimawandel stärker bekämpfen, Studiengebühren abschaffen, den Mindestlohn anheben und die Gesundheitsvorsorge für alle sichern. Damit wenden sie sich gegen den traditionellen Kurs der Partei, der von Clinton verkörpert wurde: Jenen Flügel, der die Wall Street, die Konzerne und Geldgeber lieber nicht erschrecken will. Die Sanders-Gruppe hat den Schwung und die Energie. Doch die Clinton-Leute haben die Posten und das Geld.

Die Wunden bei den Demokraten sind tief. Und noch haben die Traditionalisten die Oberhand. Bei der Neuwahl des Parteivorsitzes der Demokraten im Februar konnte sich Tom Perez durchsetzen, ein ehemaliger Arbeitsminister und Vertreter des Establishments. Perez siegte über den Kandidaten der Progressiven, Keith Ellison. Doch der Kampf um die Seele der Partei geht weiter: Ellison, erster Muslim im US-Kongress, kam bei der Wahl immerhin auf 46 Prozent.

Der parteiinterne Konflikt dürfte auch die Zwischenwahlen zum Kongress im kommenden Jahr prägen. Die Demokraten müssen den Republikanern mindestens 24 Sitze im Repräsentantenhaus abnehmen, wenn sie die Mehrheit erringen wollen. Das wäre Voraussetzung für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Trump - und schon mit einer geeinten Partei schwer genug. Ohne gemeinsame Unterstützung für demokratische Kandidaten, soviel scheint sicher, ist es fast unmöglich. Bisher verlegen sich die Demokraten im Kongress darauf, Trumps Pläne für eine Revision des Krankenversicherungssystems und den Bau einer Mauer an der Grenze zu Mexiko zu blockieren.

Sanders will eine Einheitsversicherung

Doch es tut sich was. Vor wenigen Wochen hat Sanders einen Gesetzentwurf zur Neuordnung des Gesundheitswesens vorgelegt. Für amerikanische Verhältnisse wirkt er extrem sozialistisch: Sanders will eine staatliche, aus Steuermitteln finanzierte Einheitsversicherung. Alt und Jung, Arm und Reich müssten für Zahnarztbesuch, Augenuntersuchungen und Eingriffe im Krankenhaus nichts mehr zahlen. Nur, wer Sonderleistungen oder Schönheitsoperationen will, würde sich darüber hinaus privat versichern.

Die Idee ist nicht neu. Neu ist allerdings, dass sie vom linken Rand in die Mitte der Demokraten wandert. Aus dem Stand erhielt Sanders Unterstützung von 15 Senatoren seiner Partei, darunter viele, die sich Hoffnungen auf die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten machen. Die Ideen der Progressiven, so scheint es, werden mit Sanders, der mit seinen weißen Haaren und seinen eindringlichen Appellen wirkt wie ein zorniger biblischer Prophet, hoffähig.

Sanders' Anhänger stehen Schlange, um den Propheten erleben zu dürfen. Bei einer Buchvorstellung in Chicago musste kürzlich der Beginn von Sanders' Auftritts verschoben werden, weil einfach keine Ruhe eintrat - immer neue Menschen drängten in den Saal. Bei anderen Veranstaltungen sind schon Tage vorher keine Plätze mehr zu bekommen.

Seine Gegner wollten, dass sich die einfachen Leute aus der Politik raushalten, sagt Bernie Sanders. Und meint damit wohl nicht nur Trumps Republikaner, sondern auch Clintons Demokraten. „Aber ich will das Gegenteil.“

Zweifel wegen Sanders hohen Alters haben Fans wie Shelley Pineo-Jensen nicht. „Herrgottnochmal, wir hatten doch sogar schon einmal einen Präsidenten mit Alzheimer“, sagt sie über Reagan, der bis heute von vielen Amerikanern verehrt wird.

Zur Startseite