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European Commission President Ursula von der Leyen looks on prior to a working lunch as Slovenia takes over the rotating European Union presidency, in Brdo, near Kranju on July 1, 2021. (Photo by Jure Makovec / AFP)

© AFP

Ursula von der Leyen unter Druck: EU-Parlament und EU-Kommission könnten sich bald vor Gericht gegenüberstehen

Das EU-Parlament erhöht im Streit um Rechtsstaats-Sünder den Druck auf die Kommission. Das Plenum befasst sich am Dienstag kritisch mit der Brüsseler Behörde.

Tagelang hielt sich die EU-Kommission mit einer deutlichen Positionierung zurück, nachdem das ungarische Parlament im vergangenen Monat ein umstrittenes Gesetz verabschiedet hatte, welches Kindern und Jugendlichen die Aufklärung über Homosexualität verbietet.

Doch als das Gesetz während der Fußball-Europameisterschaft durch die Regenbogen-Aktion der Stadt München in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit geriet, musste auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen reagieren. Sie bezeichnete das Gesetz als „Schande“.

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Die Intervention der Kommissionspräsidentin hat zur Folge, dass sich Ungarns Regierungschef Viktor Orbán wegen des Homosexualitäts-Gesetzes gegenüber der Brüsseler Behörde erklären muss – wieder einmal.

Gegen sein Land läuft wegen des Verstoßes gegen die Grundwerte der EU bereits seit 2018 ein so genanntes Artikel-7-Verfahren, das theoretisch auch zum Entzug der Stimmrechte in der EU führen könnte. In der Praxis hat Orbán aber wenig zu befürchten, weil Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki seinen ungarischen Amtskollegen in dem Verfahren schützt.

Die Kommission steht als Getriebene da

In dem jahrelangen Rechtsstaats-Streit mit Ländern wie Ungarn und Polen steht aber auch die EU-Kommission selbst als Getriebene da – und zwar getrieben vom Europaparlament. Die Abgeordneten verlangen, dass von der Leyen eine neuartige Regelung zur Anwendung bringt, die Rechtsstaats-Sündern wie Ungarn und Polen diesmal wirklich weh tun könnte.

Denn der sogenannte Rechtsstaatsmechanismus erlaubt es der EU-Kommission, Subventionen für Mitgliedstaaten zu kürzen, in denen auf Grund der juristischen Praxis eine sachgemäße Verwendung der EU-Gelder nicht gewährleistet ist.

Ende Juni erhielt von der Leyen vom EU-Parlamentspräsidenten David Sassoli eine schriftliche Aufforderung, dass die Kommission ihren „Verpflichtungen als Hüterin der Verträge“ nachkommen und den zum 1. Januar in Kraft getretenen Rechtsstaatsmechanismus endlich aktivieren müsse.

Die Staats- und Regierungschefs der EU hatten sich im vergangenen Dezember nach monatelangem Ringen darauf geeinigt, den neuartigen Sanktionsmechanismus zur Jahreswende einzuführen. Am Ende halfen Orbán und Morawiecki auch ihre Blockadeversuche nicht weiter.

Der Streit mit der Behörde könnte vor Gericht landen

Das Schreiben, das Sassoli verfasste, war mehr als ein freundlicher Brief von Präsident zu Präsidentin. Er löste ein Verfahren aus, an dessen Ende sich die Kommission und das Europaparlament vor dem Europäischen Gerichtshofs (EuGH) wiedersehen könnten.

In dem Moment, als Sassoli den Brief abschickte, setzte der Italiener eine Art Ping-Pong-Spiel in Gang, das beide Institutionen im Streit um den Rechtsstaatsmechanismus in den nächsten Wochen und Monaten beschäftigen wird.

Im ersten Schritt hat die Kommission jetzt bis zum 24. August um Mitternacht Zeit, um angesichts der Aufforderung Sassolis Stellung zu beziehen. Es sieht nicht so aus, dass die Brüsseler Behörde bis dahin mögliche Subventionskürzungen gegen Länder wie Ungarn oder Polen in die Wege leiten wird.

Denn zunächst will von der Leyen abwarten, wie der EuGH über eine Klage der beiden Länder gegen den Rechtsstaatsmechanismus entscheidet. Allerdings fällt das Urteil der Luxemburger Richter erst nach der Sommerpause.

Entscheidung über Klage bis Anfang November

Im Schlagabtausch zwischen Parlament und Kommission haben die Abgeordneten dann im zweiten Schritt je nach dem Eingangsdatum der Antwort von der Leyens bis spätestens Anfang November Zeit zu entscheiden, ob sie die Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus gerichtlich mit einer Untätigkeitsklage gegen die Kommission erzwingen wollen.

Ungarns Regierungschef Viktor Orbán beim EU-Gipfel Ende Juni in Brüssel.
Ungarns Regierungschef Viktor Orbán beim EU-Gipfel Ende Juni in Brüssel.

© Olivier Matthys/dpa

Auch wenn sich die Parlamentarier dies gut überlegen dürften, so zeichnet sich bereits jetzt ab, dass viele Abgeordnete die Geduld verloren haben. Die Ungarin Katalin Cseh von den Liberalen meint etwa, dass man jetzt nicht mehr mit der Kommission über Details zum zeitlichen Ablauf vor der Einführung des neuen Mechanismus feilschen werde. „Wir werden juristisch vorgehen“, zeigt sie sich überzeugt.

Neben den Liberalen sind auch die Grünen im Europaparlament fest entschlossen, es notfalls auf eine gerichtliche Auseinandersetzung mit von der Leyen ankommen zu lassen.

„Die EU-Kommission setzt geltendes EU-Recht nicht durch“, beklagt der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund. „Das Europaparlament klagt nicht, weil wir gerne vor Gericht gehen, sondern weil wir wollen, dass Europas Werte geschützt werden“, sagt er mit Blick auf das drohende Verfahren gegen die Brüsseler Behörde vor dem EuGH.

In der Debatte stehen Kommissions-Handreichungen im Fokus

In dieser Woche wollen die EU-Abgeordneten schon einmal den Druck auf die Kommission erhöhen. An diesem Dienstag wird bei der Plenumssitzung in Straßburg über einen Bericht von zwei Abgeordneten debattiert, der sich kritisch mit den so genannten Leitlinien befasst, welche die Kommission zum Rechtsstaatsmechanismus herausgeben will.

Der EU-Gipfel hatte sich im vergangenen Dezember darauf geeinigt, dass zunächst einmal diese Leitlinien zur Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus verfasst werden – ein Zugeständnis an Ungarn und Polen. Die beiden Länder erwarten von den Leitlinien eine Klarstellung, dass der neue Mechanismus nicht willkürlich gegen sie eingesetzt wird.

Die Abgeordneten halten die Handlungsanleitungen hingegen für überflüssig. Aus der Sicht der CSU-Abgeordneten Monika Hohlmeier liefern die Leitlinien in jedem Fall „keinen Grund, im Herbst keine Verfahren zu beginnen, wenn man manifest Probleme feststellt“.

Liste mit neun Ländern, die auf der Kippe stehen

Gegen welche Länder sich die ersten Verfahren der EU-Kommission im Rahmen des Rechtsstaatsmechanismus richten könnten, ist derzeit offen. Anfang Juni sprach EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn gegenüber EU-Abgeordneten noch von insgesamt neun Staaten, die von Mittelkürzungen betroffen sein könnten.

Namen nannte er allerdings nicht. Möglicherweise sind inzwischen einige Länder von Hahns Liste gestrichen worden. Die EU-Abgeordnete Hohlmeier kann sich vorstellen, dass neben Ungarn, Polen und Tschechien möglicherweise auch Slowenien und Malta in den Fokus der Brüsseler Behörde geraten könnten. „Ich erwarte von der Kommission, dass sie uns präzise Auskunft gibt“, sagt sie.

Ein Rechtsstaatsverfahren im Fall von Slowenien, wo Janez Jansa regiert, wäre besonders pikant.
Ein Rechtsstaatsverfahren im Fall von Slowenien, wo Janez Jansa regiert, wäre besonders pikant.

© Kenzo Tribouillard/REUTERS

Besonders pikant wäre die Einleitung eines Rechtsstaatsverfahrens im Falle Sloweniens. Das Land, das wie auch Ungarn und Polen 2004 der EU beitrat, hat zwar den Euro eingeführt, gilt aber in Sachen Rechtsstaatlichkeit nicht gerade als Musterknabe.

Der rechtspopulistische Regierungschef Janez Jansa weigert sich, ihm nicht genehme Juristen zur Europäischen Staatsanwaltschaft zu entsenden. Die neu geschaffene Behörde soll Fälle von Missbrauch mit EU-Geldern ahnden.

Als die Europäische Staatsanwaltschaft Anfang Juni ihrer Arbeit aufnahm, beteuerte Kommissionsvizechefin Vera Jourova, dass die Brüsseler Behörde gerne auf Informationen der Staatsanwaltschaft zurückgreife, die anschließend auch für eine mögliche Kürzung von EU-Subventionen von Relevanz sein könnten.

Und schon vor Jahresbeginn hatte Jourova betont, dass kein Fall verloren gehe, auch wenn der Rechtsstaatsmechanismus erst einmal faktisch nicht aktiviert werde.

Den Abgeordneten gehen die Ankündigungen der Kommission nicht weit genug

In der Kommission hält man sich allerdings weiter bedeckt, was die Einleitung konkreter Rechtsstaats-Verfahren gegen einzelne Länder anbelangt. Es sei eine „Option“, im Herbst ein Verfahren zu beginnen, falls sich dies als notwendig erweisen sollte, sagt ein EU-Vertreter.

Allerdings fügt er auch hinzu, dass die Einleitung eines Verfahrens noch nicht zwangsläufig die Kürzung von EU-Geldern bedeuten müsse. Dass weniger Subventionen aus Brüssel fließen, ist erst als letzter Schritt in der Verordnung zum Rechtsstaatsmechanismus vorgesehen.

Derartige Ankündigungen dürften EU-Abgeordnete in ihrer Befürchtung bestärken, dass die EU-Kommission Rechtsstaats-Sünder ungeschoren davonkommen lässt. Der EU-Abgeordnete Freund will dies nicht hinnehmen: „Wenn ein Premierminister wie Viktor Orbán die Grundrechte massiv ins Fadenkreuz nimmt, dann muss es dafür Sanktionen geben.“

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