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Vor dem Unterhaus.

© Daniel LEAL-OLIVAS / AFP

Update

Unterhaus zum Brexit: May will EU-Deal aufschnüren, Labour will Brexit verschieben

Am Abend stimmt das Unterhaus wieder über den Brexit-Kurs ab. Parteiübergreifende Unterstützung erhält der Vorschlag der früheren Labour-Ministerin Cooper.

Wenige Stunden vor einer Reihe von Abstimmungen im Blick auf den künftigen Brexit-Kurs hat Theresa May erklärt, wie zumindest sie sich das weitere Vorgehen vorstellt: Die britische Regierungschefin will das Austrittsabkommen mit der EU wieder aufschnüren. "Wir müssen einen Deal bekommen, der die Unterstützung des Parlaments erhalten kann, und das erfordert einige Änderungen am Austrittsabkommen", ließ sie über ihren Sprecher am Dienstagmittag in London mitteilen.

Übers Wochenende hatten Vertraute Mays bereits mehrfach diesen Kurs der konservativen Regierungschefin signalisiert. Dazu müsste aber das Parlament am Dienstagabend klar erkennen lassen, mit welchen Änderungen das Mitte Januar abgelehnte Paket aus EU-Austrittsvertrag und politischer Zukunftserklärung doch noch Erfolgschancen haben könnte.

Das Londoner Unterhaus hatte das von May mit Brüssel ausgehandelte Austrittsabkommen vor zwei Wochen mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. Die EU ihrerseits hat Nachverhandlungen seitdem bereits mehrfach ausgeschlossen. Die stellvertretende EU-Verhandlungsführerin zum Brexit, Sabine Weyand, hatte vor Mays Forderung vom Dienstag nochmals betont: "Diese Verhandlung ist beendet." Die Premierministerin zieht es offenbar vor, diese Aussagen zu ignorieren.

Wenn am Dienstagabend im Unterhaus diskutiert wird, stehen unter Parlamentariern aller Seiten zwei Anträge zu der neutral gehaltenen Resolution der Regierung im Mittelpunkt. Breite Unterstützung über Parteigrenzen hinweg genießt die frühere Labour-Ministerin Yvette Cooper. Ihr Vorschlag zielt darauf ab, die Möglichkeit eines Chaos-Brexit („no deal“) ein für allemal auszuschließen.

Erreicht würde dies durch einen Mitte Februar fälligen Gesetzentwurf, der die Regierung dazu zwingt, den vorgesehenen Austrittstermin am 29. März aufs Jahresende zu verlegen. Damit würde der Weg frei zu weiteren Verhandlungen mit Brüssel, zu Neuwahlen oder sogar zu einem zweiten Referendum. Dieses könnte Verfassungsexperten am Londoner University College zufolge im besten Fall binnen fünf Monaten über die Bühne gehen, was beim anhaltenden parlamentarischen Widerstand der Brexit-Ultras unrealistisch scheint.

Anti-Brexit Aktivisten bei einer Demonstration in London.
Anti-Brexit Aktivisten bei einer Demonstration in London.

© Tolga Akmen/AFP

Die Sympathie der Regierung liegt beim Antrag zweier Tory-Hinterbänkler. Andrew Murrison steht dem Nordirland-Ausschuss vor, der deutlich einflussreichere Graham Brady, amtiert als Leiter des 1922-Ausschusses, einer Interessenvertretung der Fraktionsmitglieder ohne weitere Funktion.

Ihrem Antrag zufolge würde das Unterhaus Zustimmung zum längst ausgehandelten Austrittsvertrag unter der Voraussetzung signalisieren, dass die sogenannte Auffanglösung, der backstop“, für Nordirland verändert wird. Diese sieht vor, dass am Ende der geplanten Übergangsfrist – wohl Ende 2022 – das gesamte Königreich in der EU-Zollunion verbleibt, falls bis dahin keine andere Lösung mit Brüssel vereinbart ist. Dies würde dazu dienen, die innerirische Grenze zu offen zu halten wie bisher.

Von der EU-Kommission gibt es bisher keine Bereitschaft, über weitere Verhandlungen zu sprechen. Irlands Außenminister Simon Coveney bekräftigte die Position seines Landes: „Ohne Auffanglösung wird das Europaparlament dem Vertrag nicht zustimmen.“

May will die No Deal-Option im Spiel halten

Premierministerin May will offenbar ihre Fraktion hinter Bradys Antrag versammeln, auf jeden Fall aber die No Deal-Option im Spiel halten, also Coopers Antrag ablehnen. Dies hätte wohl Rücktritte von Staatssekretären, womöglich auch Kabinettsministern wie Sozialministerin Amber Rudd zur Folge.

Die Politikerin hat ihren Wahlkreis Hastings an der Kanalküste, wo Logistikexperten angesichts der begrenzten Kapazität und möglicher Zeitverluste durch Zollkontrollen vor Lkw-Schlangen von mehreren Dutzend Kilometern vor den Häfen am Ärmelkanal warnen. Allein auf der Route zwischen dem französischen Calais und dem englischen Dover werden derzeit täglich rund 10.000 Lastwagen und damit etwa 30 Prozent des Außenhandels mit der EU abgewickelt. Einer Regierungsstudie zufolge könnte das Volumen in den ersten Tagen nach einem Chaos-Brexit um bis zu 87 Prozent fallen.

Darauf nimmt ein Brief der Einzelhändler-Lobby BRC Bezug, den Branchengiganten wie Sainsbury, Marks&Spencer sowie die stetig wachsende britische Tochter des Lidl-Konzerns unterzeichnet haben. Die Firmen warnen vor „leeren Regalen und höheren Lebensmittelpreisen“: Ein Drittel aller auf der Insel konsumierten Lebensmittel kommt aus der EU. Zum Austrittstermin Ende März liegt der Anteil von EU-Produkten bei leicht verderblicher Ware wie Salat bei 90 Prozent; 80 Prozent aller Tomaten stammen vom Kontinent, sowie 70 Prozent des weichen Obstes.

Ausdrücklich weist das BRC das von Brexit-Vorkämpfern gern angeführte Argument zurück, wonach das Land problemlos auf Regeln der Welthandelsorganisation WTO zurückfallen könne. Sollte man die eigentlich fälligen Zölle auf EU-Einfuhren nicht erheben, müsste die gleiche Vorzugsbehandlung auch Importen aus anderen Weltregionen zuteil werden. „Das wäre eine Katastrophe für unsere Landwirtschaft.“

Die Signale aus der Wirtschaft weisen allesamt in die gleiche Richtung, sagt Carolyn Fairbairn vom Lobbyverband CBI: „Der No Deal sollte sofort ausgeschlossen werden.“

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