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Aktivistinnen und Aktivisten der Bewegung "Wir stoppen die Morde an Frauen" protestieren vor dem Istanbuler Gerichtsgebäude.

© REUTERS/Dilara Senkaya

„Unser Kampf ist unaufhaltsam“: Frauenorganisation protestiert in der Türkei gegen Männergewalt

Eine Frauenorganisation in der Türkei dokumentiert Fälle tödlicher Männergewalt – nun läuft gegen die Plattform ein Verbotsverfahren vor Gericht.

Güler Karsli wollte sich scheiden lassen – und wurde deshalb ermordet. Ihr Noch-Ehemann Turan Karsli wollte die Trennung nicht hinnehmen und sollte deshalb mit einem Kontaktverbot ferngehalten werden. Vor wenigen Tagen tauchte Turan Karsli trotzdem in der Wohnung seiner Frau auf und zog eine Pistole. Er erschoss Güler Karsli, verletzte die gemeinsame Tochter Elif und richtete die Waffe anschließend gegen sich selbst.

Nach einer Zählung der Vereinigung „Wir stoppen die Morde an Frauen“ ist Güler Karsli die 160. Frau, die seit Jahresbeginn in der Türkei ermordet wurde. Der Verband veröffentlichte den Fall auf seiner Internetseite und registrierte die wichtigsten Eckdaten für seine Statistik: Todesart und -datum, Beziehung des Opfers zum Täter, Maßnahmen der Polizei. Die Plattform dokumentiert Frauenmorde, begleitet Opferfamilien vor Gericht und prangert die Untätigkeit von Justiz und Behörden an. Damit macht sie das Scheitern der Regierung im Kampf gegen die Gewalt sichtbar – und deshalb begann jetzt ein Verbotsprozess gegen die Vereinigung, die wichtigste regierungsunabhängige Frauenorganisation der Türkei.

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Vor dem Gerichtsgebäude im Istanbuler Stadtteil Caglayan versammelten sich zum Prozessauftakt Hunderte Frauen mit Plakaten und Fahnen, um gegen das Verfahren zu protestieren. „Der Kampf der Frauen ist unaufhaltsam“, skandierten die Demonstrantinnen. Gülsum Kav, eine der Vereinsgründerinnen, rief die Frauen auf, den Mut nicht zu verlieren. „Wir glauben fest daran, dass das Recht siegen wird.“

Öffentlichkeit ist die wichtigste Waffe der Aktivistinnen

Mehr als 400 Frauen werden jedes Jahr von Verwandten oder Ex-Männern in der Türkei ermordet. „Wir stoppen die Morde an Frauen“ kämpft seit zwölf Jahren gegen die Gewalt. Öffentlichkeit ist dabei die wichtigste Waffe. Beobachterinnen sollen bei Gerichtsterminen durch ihre Anwesenheit verhindern, dass Richter bei männlichen Angeklagten ein Auge zudrücken.

Die Regierung bleibt nach Ansicht von Kritikern nicht nur untätig, sondern behindert den Kampf gegen die Gewalt sogar. Per Dekret von Präsident Recep Tayyip Erdogan stieg die Türkei im vergangenen Jahr aus der Europarats-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen aus. Konservative Gegner der Konvention hatten den Vertrag als familienfeindlich kritisiert.

Ähnlich lautet jetzt die Begründung für den Verbotsantrag gegen „Wir stoppen die Morde an Frauen“. Die Staatsanwaltschaft wirft der Organisation vor, gegen die moralischen Werte der türkischen Gesellschaft zu verstoßen und die Institution der Familie zerstören zu wollen. Außerdem habe sich der Verband für kurdische Politikerinnen eingesetzt, die die Regierung für Terroristinnen hält.

Erdogan setzte die Justiz auf den wichtigsten Frauenverband Landes an

Die Staatsanwaltschaft stützt sich vor allem auf Beschwerden über den Frauenverband aus der Öffentlichkeit. Das Gericht kann die Organisation auflösen und Vorstandsmitglieder zu bis zu drei Jahren Haft verurteilen. Das Verfahren soll im Oktober fortgesetzt werden.

Zwar hat sich auch Erdogans Regierung den Kampf gegen die Gewalt auf die Fahnen geschrieben. Der Präsident traf sich vor kurzem mit weiblichen Opfern und bekräftigte, seine Regierung werde das Land von der „Schande“ der Gewalt gegen Frauen befreien. Doch zugleich setzt er die Justiz auf den wichtigsten Frauenverband des Landes an: Regierungsunabhängige Organisationen, die Fehler und Versäumnisse der Behörden anprangern, sind ihm verdächtig.

Dass ein Verbot den Frauenverband zum Schweigen bringen kann, ist unwahrscheinlich. Unter ihrer Generalsekretärin Fidan Ataselim hat „Wir stoppen die Morde an Frauen“ ein landesweites Netzwerk von Tausenden Frauen aufgebaut, die sich von Demonstrationsverboten nicht einschüchtern lassen. Der Kampfgeist der Frauen sei durch ein Verbot nicht zu besiegen, sagte Ataselim. „Denn wir kämpfen um unser Überleben.“ Susanne Güsten

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