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Abstimmung im Bundestag - mit einer Minderheitsregierung könnten immer neue Mehrheiten entstehen.

© imago/epd

Union ohne festen Partner: Eine Bundesregierung, die wirklich revolutionär wäre

Wolfgang Schäuble appelliert an die eigene Partei: Keine Angst vor einer Minderheitsregierung! Laschet sollte auf ihn hören. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Angst ist kein guter Ratgeber, zumal nicht für Politiker. Oder sagen wir so: Immer in Angst, vor allem um Mehrheiten und Macht, macht keine Politik, keine gute. Und darum geht es doch, oder? Schon gar jetzt, da eine Ära endet, die Ära Angela Merkels, und einem Neuanfang ein Zauber innenwohnen könnte. Ja, könnte, wenn nämlich einer gewagt wird. Und ein Wagnis einzugehen, gehört dazu. Nach dem 26. September.

Deshalb hat ein weiser alter Mann der deutschen Politik, einer der bedeutendsten, die sie je hatte, seiner Union den Gedanken nahegelegt, auch einmal ohne eine festgemauerte Koalition die Regierung zu stellen. Gemeint ist der Architekt der deutschen Einheit, Multi-Minister, Fraktionschef, Parteichef, Rekordabgeordneter, jetzt Parlamentspräsident, lange Zeit Kanzler im Konjunktiv, kurz: Wolfgang Schäuble. Er wird für Baden-Württemberg wieder ins Parlament einziehen, weil es ihn reizt, für seine Positionen zu werben, zu kämpfen.

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Unvorstellbar, bisher, aber jetzt stelle man sich das doch einmal mal vor: Ohne eine feste Koalition, ohne einen Partner, mit dem man in Wochen jeden Spiegelstrich einer Vereinbarung verhandelt hat, die dann auf mehr als 150 Seiten niedergelegt und mit Unterschriften beglaubigt akribisch abgearbeitet werden muss. So Breschnew-artig ist die deutsche Politik doch nun seit Langem: Die strikte Einhaltung des einmal Vereinbarten, Teil der Doktrin des vormaligen Sowjetführers Leonid Breschnew.

Aber die Zeiten sind anders, schneller, rasanter geworden, erfordern fast ultimativ Flexibilität und raschere Entscheidungen, ungewöhnliche auch. Und die Sowjetunion ist auch schon lange Geschichte. Reglementierungen in allen Ehren – politische Veränderungen darf nicht, logischerweise, davon abhängen noch daran ersticken. Was passieren kann, wenn das Vereinbarte wichtiger genommen wird als das Angestrebte.

Achtung: Große Politik wäre andererseits auch möglich

Schäuble wird’s geahnt haben: Oh weh, oh weh, das geht doch gar nicht, denken sie in Unionskreisen. Sie sagen es nur nicht ganz so. Sagen lieber: Wenn überhaupt, dann ist das eine Notlösung. Ja, kann sein, muss aber zugleich nicht Angst und Erschrecken verbreiten. Denn, Achtung: Große Politik wäre andererseits auch möglich.

Wie das? Indem der Kanzler – und es wird ja wohl einer werden – für das, was er erreichen will, wirbt und je nach Vorhaben einen Partner findet, weil der überzeugt ist, sich davon hat überzeugen lassen, dass es sich lohnt, dem die Stimme zu geben.

Also, beim Klimaschutz können es die Grünen sein, bei einer neuen Steuerpolitik die Freidemokraten, bei der Rente und dem Mindestlohn die Sozialdemokraten. Und so käme auf Umwegen Modernisierungsbündnisse zustande.

Sage keiner, das gehe nicht. Auf Ländereben hat Reinhard Höppner in Sachsen-Anhalt vor Jahrzehnten vorgemacht, dass mit einem – sagen wir – Toleranzpartner Staat gemacht werden kann. Erstaunlich war das, hielt es doch eine ganze Legislaturperiode.

Richtig, auf Bundesebene ist das noch einmal eine größere Herausforderung. Aber in der Außenpolitik gibt es heute schon Koalitionen über mehrere Parteigrenzen hinweg, weil etwa die Bundeswehr ja auch eine Parlamentsarmee ist und nicht einer Regierung gehört. Zum anderen: Eine Herausforderung im besten demokratischen Sinn, wie von den alten Griechen schon gewollt, täte der Politik nach 16 Jahren Angela Merkel auch ganz gut.

Grundgesetz sieht die Möglichkeit einer Minderheitsregierung vor

Vom früheren Bundespräsidenten und FDP-Granden Walter Scheel – der mit Willy Brandt die Ost- und Entspannungspolitik gewagt hatte – stammt Mahnung, das als richtig, notwendig und nützlich Erkannte auch dann zu tun, wenn man genau weiß, dass es selbst bei manchen Freunden noch nicht populär ist. Scheel warb für Risikobereitschaft. Weil es ja auch nicht darum gehe, das Populäre zu tun, sondern das Richtige und das dann populär zu machen. Welch einer schöner Ansporn dafür, aus einer Minderheit mit so viel Leidenschaft wie Vernunft eine Mehrheit zu machen.

Insofern hat Schäuble – wieder einmal – einen wichtigen Gedanken angestoßen, einen zutiefst parlamentarischen im Übrigen. Denn Politik wird von der Regierung exekutiert, deswegen heißt sie Exekutive, der Gesetzgeber ist aber das Parlament, der Bundestag. Der sich, nicht zu vergessen, jederzeit eine andere geben könnte, wenn er denn mit Mehrheit zu dem Ergebnis käme, dass die amtierende nicht leistet, was sich die Volksvertreter fürs Volk wünschen.

Apropos Gesetzgeber: Das Grundgesetz sieht die Möglichkeit einer Minderheitsregierung vor, und in der Länderkammer, dem Bundesrat, gibt es oft genug sogenannte wechselnde Mehrheiten zu den verschiedene n Themen. Darüber regt sich – außer in der politische Klasse – so recht auch niemand darüber auf.

Also lautet wohl der beste Rat: Bange machen gilt nicht. Man hat nur Angst, wenn man mit sicher selber nicht einig ist. Wusste Hermann Hesse, noch so ein gedankenvoller Mensch aus Baden-Württemberg.

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