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Könnte sie Orbán beerben? Aktuell liegt Klára Dobrev, Spitzenkandidatin der "Demokratischen Koalition", im Vorwahlkampf vorne.

© Attila Kisbenedek/AFP

Update

Ungarns Oppositionsparteien suchen Orbáns Gegner: EP-Vizepräsidentin liegt in erster Runde vorne

Mit offenen Vorwahlen zu den Parlamentswahlen 2022 wollen sich sechs Oppositionsparteien auf ihren Spitzenkandidaten einigen. Die Stichwahl steht noch aus.

„Ungarn ist nicht gleich Orbán“, sagte Klára Dobrev, Vertreterin der ungarischen Partei Demokratikus Koalició (DK) und EP-Vizepräsidentin schon im Juli im Europaparlament. Um das zu beweisen, trat sie an im Vorwahlkampf eines breiten Oppositionsbündnisses an, als eine von fünf möglichen Spitzenkandidat:innen zur Parlamentswahl 2022.

Nach drei Tagen Auszählung steht fest: Dobrev führt mit rund 35 Prozent der Stimmen, gefolgt von Budapests Oberbürgermeister Gergely Karácsony (27 Prozent) und dem Mitte-Kandidaten Péter Márki-Zay mit rund 20 Prozent. Mitte Oktober ist eine Stichwahl angesetzt, wobei der drittplatzierte zu Gunsten von Karácsony zurücktreten könnte.

Im April 2022 entscheidet sich, ob Ministerpräsident Viktor Orbán und seine Koalition aus nationalkonservativer Fidesz und christdemokratischer KDNP ihr viertes konsekutives Regierungsmandat antreten dürfen. Klára Dobrev ist auch die Ehefrau von Ferenc Gyurcsány, der bis 2009 in Ungarn regierte. Seine Regierungszeit polarisiert in Ungarn stark, Gyurcsány ist für Fidesz-Wähler ein klares Feindbild.

Vorwahlen im ganzen Land und online

Eine Premiere für Ungarn: Um den seit elf Jahren regierenden Viktor Orbán und seine Regierungskoalition aus Fidesz und KDNP zu besiegen, will das Bündnis nur eine:n Spitzenkandidat:in 2022 antreten lassen.

Zudem soll die Vorwahl in jedem der 106 Direktwahlkreise im Land eine Person bestimmen, die gegen die Kandidaten der Fidesz-KNDP-Koalition antritt. Das Bündnis einigte sich im Vorfeld auf ein gemeinsames Wahlprogramm, die „gemeinsame Basis“ (közös alap). Sie betonen dabei die Vielfalt des Landes, dessen Interessen sie gemeinsam vertreten wollen.

Politiker:innen der Momentum-Partei demonstrieren gemeinsam mit Jobbik für die Pressefreiheit.
Politiker:innen der Momentum-Partei demonstrieren gemeinsam mit Jobbik für die Pressefreiheit.

© Martin Fejér, estost.net/imago

Die erste Runde der offenen Vorwahlen fand vom 18. bis 28. September statt, sechs Parteien nahmen teil, von der rechtskonservativen Jobbik bis zur linksgrünen Partei Párbeszéd Magyarországért (PM). Wer den Vorwahlkampf gewinnt, dem versichern die anderen Oppositionsparteien ihre Unterstützung im April. Gelingt das, könnte Ungarn wieder „in die Kreise seiner Verbündeten und Freunde“ kommen, „zurück nach Europa“ – wie Dobrev in ihrer EP-Rede formulierte.

Auf Protesten, wie hier für LGBT-Rechte, zeigen Ungarn immer wieder ihre Unzufriedenheit mit Orbán.
Auf Protesten, wie hier für LGBT-Rechte, zeigen Ungarn immer wieder ihre Unzufriedenheit mit Orbán.

© Attila Kisbenedek/AFP

700.000 Personen, etwa acht Prozent der Bevölkerung, haben sich an den Vorwahlen beteiligt, rechnete die nationale Wahlkreiskommission OEVB. Abgestimmt werden konnte an zahlreichen Wahlständen im Land, draußen, und online über eine unparteilich betriebene Webseite.

Zwar fiel die Webseite zwischenzeitlich wegen Überlastung und einem mutmaßlichen Hackerangriff aus. Dennoch konnten, auch dank der vielen Freiwilligen, die die Registrierung und Verifizierung von Wählenden betreuten, mehr als 100.000 Menschen abstimmen, darunter auch viele im Ausland lebenden Ungarn.

Oppositionelles Bündnis für mehr Rechtsstaatlichkeit

Seit 2010 beeinflusst die Orbán-Regierung mit zahlreichen Gesetzen verschiedene gesellschaftliche Bereiche von Bildung über Pressefreiheit bis zu Wahlgesetzen und unterzieht das Land einem Wandel. In mehreren Fällen hat die Europäische Kommission in Reaktion auf ungarische Gesetze Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, nun könnten dem Mitgliedsstaat sogar EU-Gelder gekürzt werden.

Die Frage der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn ist immer wieder auf der europäischen Tagesordnung. „Während wir über Rechtsstaatlichkeit debattieren, dürfen wir nicht vergessen, dass es sich um menschliche Leben und Schicksale handelt“, sagte die ungarische EU-Abgeordnete Anna Júlia Donáth von der liberalen Partei Momentum im Juli im Europaparlament.

Immer wieder wird Ungarns Premier Viktor Orbán von der EU gerügt.
Immer wieder wird Ungarns Premier Viktor Orbán von der EU gerügt.

© dpa

Orbáns Politik ist in Ungarn seit mehr als einem Jahrzehnt gesamtgesellschaftlich bestimmend. Unabhängige Institutionen, egal ob Nichtregierungsorganisationen (NGOs), wissenschaftliche Einrichtungen, Lehrergewerkschaften oder Medienhäuser haben im vergangenen Jahrzehnt gegen die Einschränkungen ihrer Rechte protestiert.

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Nur in seltenen Fällen führen diese Proteste allerdings zu Veränderung: Die Zweidrittelmehrheit der Fidesz und KDNP-Abgeordneten ermöglicht eine progressive Umstrukturierung des Staates auf vielen Ebenen, ohne eine Debatte mit Oppositionellen führen zu müssen, ob innerhalb oder außerhalb des Parlaments.

2011 wurde ein neues Wahlgesetz beschlossen, das die Zahl der Abgeordneten fast halbierte, auf 199 Mandate, und den Direktmandaten im Zweistimmensystem mehr Gewichtung brachte. Außerdem wurde eine Gewinnerkompensation eingeführt, womit größere Parteien gestärkt werden. Die Oppositionsparteien verstanden schnell, dass ihnen in diesem System nur eine Strategie bleibt: Sie müssen sich zusammenschließen, und zwar über Parteigrenzen hinweg.

Strategie der Einheit - trotz großer politischer Unterschiede

Mit einer Strategie der Einheit versuchten verschiedene linke Parteien schon bei den Parlamentswahlen 2014 und 2018, Orbáns Fidesz-KDNP zu besiegen – ohne Erfolg. Hoffnung brachte dann die Budapester Bürgermeisterwahl im Herbst 2019. Hier vereinigte sich ein Großteil der Opposition nach einer Vorwahl hinter Gergely Karácsony, dem Spitzenkandidaten des linken Bündnisses aus PM und MSZP. Er holte gut die Hälfte der Stimmen und löste damit den langjährigen Fidesz-Oberbürgermeister István Tarlós ab.

Schafft er es diesmal? Budapests Bürgermeister Karácsony wollte schon 2018 Ministerpräsident werden.
Schafft er es diesmal? Budapests Bürgermeister Karácsony wollte schon 2018 Ministerpräsident werden.

© REUTERS

Karácsony hofft auf eine Wiederholung bei der Parlamentswahl 2022. Für die zweite Runde des Rennens setzt er darauf, dass die anderen Bündnispartner statt Dobrev ihn unterstützen. Dem drittplatzierten Márki-Zay versprach er schon einen wichtigen Posten in einem zukünftigen Kabinett.

Am anderen Ende des politischen Spektrums geht der Jobbik-Kandidat Péter Jakab ins Rennen. Jakab gab am Donnerstag schon bekannt, dass er es nicht in die nächste Runde schaffen wird, und betonte, dass Ziel sei es weiterhin „das oppositionelle Bündnis zusammenzuhalten“.

Er ist Jobbik-Parteivorsitzender und Geschichtslehrer jüdischer Abstammung, dessen Urgroßvater in Auschwitz ermordet wurde. In den vergangenen Jahren hat sich Jobbik von ihren rechtsextremen Ansichten mehr und mehr abgewandt und stellt sich nun als gemäßigtere Volkspartei dar.

Auch wegen der Vielfalt der Stimmen innerhalb des Oppositionsbündnisses bereitet man sich auf einen harten Wahlkampf vor, bei dem die Fidesz-Partei diese Unterschiede gegeneinander ausspielen wird. Vor allem verfügt die Regierung über ein weitaus größeres Budget zur Kommunikation von politischen Inhalten, mit denen auch zwischen Wahlen große Kampagnen gefahren werden.

Mit Slogans wie „Ärgert Sie die illegale Einwanderung?“ und „Sorgen Sie sich, dass Ihr Kind sexueller Propaganda ausgesetzt wird?“ und dazu passenden Emojis, warb die Regierung im Sommer auf Riesenplakaten für ihre „nationale Konsultation“ zum Kinderschutz vor „homosexuellen Inhalten“. Diese erhielten alle Bürger:innen per Post, sie soll Verbundenheit suggerieren.

Die Suche nach Verbündeten in Deutschland

Um gegen Orbáns Übermacht anzukommen, baut die Opposition auch auf Unterstützung aus dem Ausland. Der Spitzenkandidat der liberalen Momentum-Partei, András Fekete-Györ, begab sich im Sommer auf zehntägiger Europareise.

In Brüssel traf er unter anderem EU-Kommissarin Margrethe Vestager und den Europaabgeordneten Guy Verhofstadt. In Berlin verabredete sich Fekete-Györ, der in der Vergangenheit unter anderem für den CSU-Politiker Hans-Peter Friedrich arbeitete, diesmal mit den FDP-Politikern Christian Lindner und Alexander Graf Lambsdorff.

Fekete-Györ landete in der ersten Runde der Vorwahl mit 3,5 Prozent der Stimmen auf dem letzten Platz. Seine Partei Momentum sieht er allerdings für die zweite Runde als „Königsmacher“.

Letzter Platz: András Fekete-Györ (Momentum) stellte sich ebenfalls gegen Orbán zur Wahl.
Letzter Platz: András Fekete-Györ (Momentum) stellte sich ebenfalls gegen Orbán zur Wahl.

© Vörös Szilárd/imago

Budapests Bürgermeister Karácsony reiste auch im Juni nach Berlin, hier nahm er an einem Treffen internationaler Sozialdemokraten teil. Er traf unter anderem Olaf Scholz und Annalena Baerbock. In einem Facebook-Post hob er die Bedeutung der deutsch-ungarischen Wirtschaftsbeziehungen hervor, die für die Arbeitsplätze in Ungarn eine große Rolle spielen.

Wichtig dabei sei „größere Transparenz, eine gerechtere Lastenteilung und der bessere Schutz von Arbeitnehmerrechten“. Auch EP-Abgeordnete Donáth betonte in ihrer Rede: Der Kampf gegen ein unmenschliches System sei nicht nur für Ungarn wichtig, sondern für ganz Europa.

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