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Erinnerung an eine Revolution. In Budapest gedenken die Einwohner des Aufstandes gegen die Sowjetunion vor 60 Jahren.

© Zlotan Mathe/dpa

Ungarn und der Aufstand von 1956: Wo die Freiheit heute auf Abwegen ist

Genau vor 60 Jahren begann die ungarische Revolution - ein europäisches Datum. Doch aus dem Land, das ein Wegweiser aus Unfreiheit war, ist ein Problemfall geworden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Hermann Rudolph

Erinnerung kann zwiespältig sein. Dieser Sonntag setzte vor 60 Jahren ein europäisches Datum: Am 23. Oktober 1956 begann die ungarische Revolution, die die Welt erschütterte. Um so mehr muss es betroffen machen, dass der Blick auf Ungarn heute gemischte Empfindungen auslöst. Aus dem Land, das einmal Pfadfinder für den Aufbruch Osteuropas aus Unfreiheit und Erstarrung war, ist ein Problemfall geworden.

Zumal aus deutscher Sicht ist das ein fataler Befund. Denn Deutschland und das schöne Land im Karpatenbogen waren sich immer nahe, gerade auch in der jüngsten Vergangenheit. Ungarn war zu DDR-Zeiten das bevorzugte Reiseland der Ostdeutschen, die dort einen Hauch Westen schnupperten, und der Platz, auf dem sich getrennten Familien aus Ost und West treffen konnten. Dann machten beide Länder Geschichte: Mit dem Abbau des eisernen Vorhangs im Spätsommer 1989 wurde in der Tat der erste Stein aus der Mauer gebrochen. Und war Ungarn nicht das Land im Ostblock, das vor allem dank seiner Wirtschaftsreformen zum Hoffnungsträger wurde?

Politikmüde Bürger

Nun handeln Nachrichten aus Ungarn vornehmlich von der Gängelung der öffentlichen Meinung, von einem abenteuerlichen Umgang mit der politische Verfassung, von einem erbitterten Kulturkampf. Besorgt fragt man sich, wohin der Weg des Landes führt: hinein in das Europa der demokratischen, parlamentarischen Demokratien oder in eine ganz eigene, ungarisch verbrämte Staatlichkeit mit national-autoritären Zügen? Zuletzt hat die Flüchtlingskrise eine Probe dafür gegeben, wohin das führen kann: zum Versuch, mit einer Volksabstimmung die Ablehnung einer EU-Lösung plebiszitär zu zementieren – er scheiterte nur an der Politikmüdigkeit der Bürger.

Allerdings hat die Freiheit, die 1989 errungen wurde, im ganzen ostmitteleuropäischen Raum seltsame Wege eingeschlagen. Der große Umbruch hat nicht nur neue, demokratisch verfasste Staatswesen entstehen lassen, sondern auch populistische und nationalistische Strömungen freigesetzt.

Bürger gegen Panzer in der ungarischen Hauptstadt im Herbst 1956.
Bürger gegen Panzer in der ungarischen Hauptstadt im Herbst 1956.

© dpa

Regierungswechsel sind in vielen Fällen Vehikel erbitterter Konfrontationen, bei denen der politische Gegner mit allen Mitteln bekämpft wird. Und die Zusammenarbeit der Visegrád- Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und Slowakei besteht nicht nur in der regionalen Kooperation und Interessenvertretung. Gerade in der Flüchtlingsfrage zeichnen sich in dem Verhalten der Ostblock-Nachfolge-Staaten Züge einer neuen europäischen Achse ab, die – mit Ungarns ehrgeizigem Regierungschef Viktor Orbán an der Spitze – die zentrifugalen Bewegungen in Europa verstärkt.

"Für die Freiheit und sonst nichts"

Vor allem ist verblüffend, dass die Selbstbefreiung von der kommunistischen Herrschaft in Ostmitteleuropa kaum irgendwo ein Gegenstand des Stolzes und der Ermutigung ist. Stattdessen ist die Wende – vornehmlich in Ungarn und Polen – zum Thema eines selbstzerstörerischen Streits geworden, bei dem sich die Kontrahenten mit Vorwürfen und Unterstellungen beharken. Hätte man sich so etwas vor 60 Jahren auf den Barrikaden von Budapest vorstellen können? Die politische Philosophin Hannah Arendt sah in der ungarischen Revolution einen denkwürdigen Vorgang der politischen Geschichte, weil sie das Beispiel des Aufstandes eines ganzen Volke „für die Freiheit und sonst nichts“ war. Ein Vierteljahrhundert nach 1989 erweist sich, wie schwierig es ist, mit der Freiheit zu leben.

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