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Umgangsformen: Sie? Du! Du? Sie!

Kumpelhaft, höflich, eng vertraut, respektvoll, flapsig, autoritär: Die Anrede bestimmt unseren Umgang miteinander.

Christopher Buchholz kannte es nicht anders. Seine Eltern, die französische Schauspielerin Myriam Bru und der große Horst Buchholz siezten sich. Das junge Paar war beim Sie geblieben, hatte es zuerst am Set zu einer Verfilmung von „Krieg und Frieden“ in französischer, später auch in deutscher Sprache miteinander getauscht. Für den Sohn war das Sie nie etwas Besonderes. „Etwas Schönes“ höchstens. Es könne sogar erotisch sein, sagt Buchholz und erzählt von einem jüngeren Freund in Paris. Der traf sich beruflich mit einer um einige Jahre älteren Dame. Sie siezten sich, selbstverständlich. Sie gingen miteinander aus. Sie wurden ein Liebespaar, eines, das Sie zueinander sagt.

Er selbst, sagt Christopher Buchholz lachend, würde manchmal seine Frau gerne siezen. Im Streit zum Beispiel. Wenn ein Sie weniger heikel wäre als diese unbedingte Intimität eines Liebes- Du. Mit dem Sie würde im Streit alles Heftige und Ungestüme „ganz leicht über den Kopf hinwegfliegen“, sagt der Schauspieler und Regisseur, der in den USA geboren wurde und in England und Frankreich zur Schule ging. Manchmal, sagt er, bestehe er sogar darauf. Besonders im Filmgeschäft, wo sich alle geradezu zwanghaft duzen. Ob man schon Kühe miteinander gehütet habe, fragt Christopher Buchholz gelegentlich einen nassforschen Jung-Star. Der Jung-Star weiß dann meist nicht, wie ihm geschieht.

Es passiert ihm wahrscheinlich zum ersten Mal, dass jemand diesen feinen, unmissverständlichen Abstand herstellt und ihn daran erinnert, dass Menschen nicht beliebig nahbar sind. Eventuell wird er es für eine Marotte halten, die man besser auf sich beruhen lässt. Es wird ihm auch nicht schwerfallen, sich Gewährsleute zu beschaffen. Vielen kommt das Sie seltsam vor, wie eine Art Verstopfung der Kommunikation. Im Englischen werden sie siegessicher anführen, sage man ja auch einfach Du, also You.

Was den letzten Punkt angeht, lässt sich das leicht entkräften. Nein, die englische Sprache duzt niemanden. Und sie siezt auch nicht. Sie ihrzt, müsste man etymologisch korrekt sagen. Das You ist ein Plural, und es ist sehr viel distanzierter als der Singular des Thou, von dem die englische Sprache sich bereits im 17. Jahrhundert weitgehend trennte. Die Sprachwissenschaftler erklären dieses schnelle Verschwinden mit der Aufklärung. Und verweisen auf den Staatsmann Lord Chesterfield, der seinen Sohn darüber belehrte, dass es sich für einen Gentleman nicht gehöre, eine respektlose, weil allzu umgangssprachliche Anredeform (Thou) zu wählen. Um die Herleitung abzukürzen: das you fällt als Bürge des jungen, schnellen, vermeintlich internationalen Du aus.

Trotzdem muss sich das Sie nicht rechtfertigen. Dann lässt es sich eben nicht vernünftig begründen, dann entspringt es vielleicht einfach einer Vorliebe für einen bestimmten Ton, eine Art der erwachsenen Vorsicht und Scheu, die man teilt oder nicht. Sie oder Du? Die Frage beträfe nichts weiter als den jeweiligen persönlichen Geschmack.

Doch so rasch ist die Sache nicht erledigt. Wie man einander anspricht, reicht weit über Geschmacksfragen hinaus. Und prägt diverse Spielarten aus. Neben dem näselnden Hamburger Sie („Elisabeth, kommen Sie mal bitte?“) steht das bodenständige Münchner Du („Du, Frau Wagner ...“), beim Golfen erwirbt man sich die Vertraulichkeit exakt für die Dauer eines Spiels (Tages-Du), und bei den Gebirgsjägern des Schweizer Bundesheers ist das 3000-Meter-Du ungeschriebenes Gesetz: Darunter, also von 2999 Metern über dem Meer abwärts, gehorcht man den gängigen Hierarchien und Konventionen; darüber zählen nur der Mensch und die Natur.

Aber auch in weniger extremen oder spezifischen Lebenslagen gilt: Die Anrede bestimmt den Umgang miteinander. Sie gibt die Tonart vor, regelt Nähe und/oder Distanz. Dabei liegt das Sie in Deutschland kräftig im Trend.

Das zumindest erklärt der Sprachforscher Heinz Leonhard Kretzenbacher, der an der Universität Melbourne im Rahmen eines internationalen Projektes intensiv zu den deutschen Anredepronomina gearbeitet hat. Mit deren gesellschaftlichen Kompliziertheiten ist Kretzenbacher lange vertraut. Bereits 1989 meldete er sich zu Wort. „Vom Sie zum Du – Mehr als eine neue Konvention?“, so lautete die noch ganz auf die alte Bundesrepublik zugeschnittene 16. Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Kretzenbacher attestierte damals eine Verunsicherung. Das Du der 68er-Bewegung hatte einen erheblichen Teil seines Charismas und utopischen Furors verloren. Die alten Hierarchien jedenfalls waren darüber nicht abgeschafft worden. Wohin, wenn nicht in den Life-Style würde das Du in der neuen Berliner Republik also treiben?

Allerdings gab es damals auch brennendere Fragen als die nach dem Verbleib des 68er-Du. Wie würden sich Ost und West sprachlich verhalten? Würde man Du sagen? Sich die Liebe erklären? Kretzenbacher zitiert aus dem Briefwechsel zwischen der ostdeutschen Schriftstellerin Monika Maron und ihrem westdeutschen Kollegen Joseph von Westphalen. „Ihr Du ist das Boutiquendu“, sinniert Maron. „Mein Du ist das allgegenwärtige Gewerkschaftsdu“, „und natürlich das Minderheitendu, eine konspirative Herzenssache“. Monika Maron siezt ihren westdeutschen Kollegen, achtet „auf Abstand“. Befremden drückt sich aus, Unbehagen und Stolz. Was ist geworden aus diesem Sie?

In Mannheim, Leipzig und Wien fragte das Melbourner Forscherteam nach den beruflichen und privaten Gepflogenheiten der Anrede. Und was man fand, so Kretzenbacher im Vorausblick auf die demnächst erscheinenden Ergebnisse seiner Studie, könne man getrost als gesteigertes Bedürfnis nach Abstand bezeichnen. Das Du und das Sie markieren dabei nur die „Spitze des Eisbergs“. Nuancen des Titelgebrauchs spielen eine Rolle, der Namensgebrauch, der spezifische Ton eines Grußes. „Hallo, wie geht es Ihnen?“: In Wien ist diese Kombination bereits ein Fauxpas. Man duzt öfter, achtet aber sehr auf die richtige Platzierung der Titel. In Deutschland dagegen zieht sich das Du zunehmend in „scharfe Kernbereiche“ (Familie, Freunde, Medien) zurück. Auf der Karriereleiter verflüchtigt es sich fast völlig. Und gesiezt wird tatsächlich am häufigsten im Osten. In Leipzig siezt man den Chef fast ausnahmslos und tunlichst die Hälfte der Kollegen. Zu Zeiten der DDR sei das anders gewesen, sagen einige der Befragten. Da habe man sich fleißig geduzt und sei überhaupt herzlicher miteinander gewesen. Andere erinnert das Du fatal an Gleichmacherei und Parteidoktrin.

Man kann es flüstern oder schreien, kann damit begrabschen und jemanden beschimpfen. Das Du (siehe StGB § 185) ist außerdem begabt für die Beleidigung. Sätze wie „Ich kann Deine Fresse nicht mehr sehen!“ oder „Lass mich mit so einer Scheiße in Ruhe!“ passen wie angegossen. Man kann den Gegenversuch starten, mit Sie („Ihre Fresse“) – das wäre auch ziemlich schlimm. Aber die „Scheiße“ flöge einem nicht so direkt ins Gesicht, und Kanzleramtsminister Ronald Pofalla käme höchstens auf Armlänge an einen heran. Wolfgang Bosbach, ebenfalls CDU, ist nicht zu beneiden. Bestimmt würde er gern wieder Sie zu Herrn Pofalla sagen. Möglicherweise hat er es ohnehin nie gemocht, Pofalla – weil man das selbst in einer bürgerlichen Partei so macht – zu duzen. Mit einem Sie könnte der Wolfgang dem Ronald wahrscheinlich auch leichter verzeihen. „Zwischen Ihnen und mir sind die Dinge geklärt.“ Das wäre realistisch. Man müsste beim Verzeihen nicht so schrecklich unausweichlich werden. Nicht so beklemmend freundschaftlich.

Hat Joschka Fischer sich eigentlich jemals bei Richard Stücklen entschuldigt, 1984? Damals ging es um Helmut Kohl und die Flick-Affäre und die Worte des Grünen-Abgeordneten schrieben Bundestagsgeschichte: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.“

Auch der Fußballtrainer Louis van Gaal besteht darauf, gesiezt zu werden – von seinen Töchtern. Er sei das so gewohnt, auch er habe seine Eltern gesiezt, sagt er und hegt offenbar Sympathien für die Erziehungsideale des 19. Jahrhunderts. Es selbst duzt seine Kinder. Auch das verrät einiges. Denn dieses Du ist das Du, vor dem Lord Chesterfield seinen Sohn gewarnt hatte – das Du des Herrn über seine Untertanen. Jenes Du, das man ersetzt hat durch ein respektvolles Sie oder zumindest durch ein Du auf Gegenseitigkeit. „Ihr dürft Trainer und Sie sagen“, hat Herthas frisch gebackener Coach Michael Skibbe seinen Spielern diese Woche zugerufen. Und was sagt er?

Die Gegenseitigkeit ist der entscheidende Fortschritt. Das Sie auf Gegenseitigkeit ist ein Zeichen, sicher keine Garantie der Emanzipation. Es grenzt sich ab vom Du des Feudalherren, vom Du der totalen Kontrolle, das man ungefragt verpasst bekommt und gegen das man sich nur wehren kann, indem man penetrant zurück siezt.

Das Schlüsselwort heißt Abstand. Die Anrede mit Sie, sagt die Sprachwissenschaft, ist darin Expertin. Denn die Situation gerate dank ihrer Hilfe weniger direkt, oder in den Worten des berühmten Romanisten Harald Weinrich, „weniger scharf konturiert“. Man kann das mit „diskret“ übersetzen. Das Sie, so Weinrich, hält „das Gespräch möglichst lange im schonenden Vorfeld der Handlung“. Dort, wo man sich nicht sofort entscheiden und Meinung machen muss, wo Zeit zum Nachdenken ist, und wo übrigens auch die Komik wohnt. „Herr Doktor Klöbner! Ich lasse jetzt das Wasser ein, wenn Sie mich höflich darum bitten.“ Ohne das Sie würde es nicht funktionieren. Ohne dieses Zögern, die kleine Pause, die das Sie im Satz hinterlässt, wären zwei nackte Männer, die in einer Badewanne um ein Quietsche-Entchen streiten, im besten Fall lächerlich – und die Nudel an Hildegards Kinn in „Sagen Sie jetzt nichts“ ein ödes Missgeschick.

Apropos Missgeschick. Eine Fernsehmoderatorin duzt ihren weiblichen Gast. Das kommt vor. „Jedes Mal, wenn eine Frau eines gewissen Alters besonders gut aussieht“, sagt die Moderatorin, „denkt man, die hat was machen lassen.“ Die angesprochen Dame reagiert empört: „Auf gar keinen Fall, ich lehne diese Sachen ab!“ Die Moderatorin wirkt irritiert und sagt plötzlich, als habe sie vergessen, dass sie im Fernsehen ist, plötzlich wieder Sie. „Ach jetzt habe ich doch wieder Sie gesagt, Verzeihung.“ Schnell kehrt sie um. Doch ohne Erfolg. Wir glauben nicht mehr an eine tiefere Verbindung, vermuten in Wahrheit eher Antipathie.

Unsere Ahnungen, unser Misstrauen reichen zurück bis ins 18. Jahrhundert. „Sie! Sie! das lautet meinen Ohren so unerträglich, zumal von meinen liebsten Freunden, daß ich es nicht sagen kann“, schreibt der 16-jährige Goethe 1765 an seinen Jugendfreund Johann Jakob Riese und wünscht sich vom Freund sehnlichst das Du. Er wird es bekommen, und mit ihm eine Generation von jungen Poeten und Schwärmern, die in ihren Briefen unser Freundes-Du erfunden haben.

Innig ist es und exklusiv. Ganz anders als jenes Du, das bis ins 9. Jahrhundert die alleinige Form der Anrede im Deutschen war. Über das Kirchenlatein und dessen Pluralis majestatis hat sich dann langsam ein System aus Anredepronomen, Titeln und Namensnennungen entwickelt. Die Abstufungen der Anrede dienten der Abbildung sozialer Hierarchien. Man benutzte das Euch, das Euer in „Euer Exzellenz und Hochwohlgeboren“, das Ihr und das Er, das wie die Gebrüder Grimm in ihrem Wörterbuch ironisch notierten, „bald nicht hinreichend fein genug war“ und verdrängt wurde durch das Ihr und das Sie. Jacob Grimm schimpfte auf all die „pedantischen“ und „sprachverwirrten“ Anredeszenarien der Deutschen, die „schwüle luft galanter höflichkeit“. Das neue Du des späten 18. Jahrhunderts erschien ihm mickrig und eingesperrt. Das Du privatisiert. Politisch wird es erst später.

Ende des 19. Jahrhundert verlässt es das Haus. Arbeiterbewegung und Sozialdemokraten teilen es untereinander zum Zeichen der Solidarität. Es ist das Du der „Vergessenen“, im Berlin der Jahrhundertwende zeichnet Heinrich Zille die Gören, die Blut spucken können, „wenn se nur wollen“, die schwangeren Mütter im feuchten Keller, die kleinen Ganoven, die Nutten, den Kutscher, der sein Pferd in der Kälte tröstet: „Laß man Liese, wenn wir ooch bloß zweeter Jüte sind - uns brauchen se doch...“

Ein nahes Du ist es gewesen, eines der Nachbarschaft, das es nicht nötig hatte, „national“ zu tun. Dabei hörte man längst schon ein anderes, ein „kerndeutsches“, ein Du fürs „völkische Selbstgefühl“. „Wo das Blut spricht, da bricht das Du durch“, liest man 1934 in einer Dissertation zum „Deutschen Gruß“. Und weiter: „Es ist kein Zweifel, daß das Stückchen Erbmasse, das dem Wörtchen Sie anhaftet, nicht sehr erfreulich für uns ist.“ Die Nazis lieben das Du – das Sie, man ahnt es, gehört den anderen. Im Sinne der Nazis wirkt es dekadent, gekünstelt, kurz: „jüdisch“. Am Volksgerichtshof wird es von Roland Freisler verhöhnt. Er dehnt es, erniedrigt, verurteilt „Siieeee!!!“, die nicht mehr „Du“ sind und nicht zum Wir gehören, tausendfach zum Tode.

Jede Freiheit beginne damit, Nein zu sagen, hat Susan Sonntag gesagt. Vielleicht fällt Neinsagen leichter, wenn man ein bisschen Platz zwischen sich und dem Gegenüber lässt. Wir wollen wählen können, weiß der Anredespezialist Kretzenbacher. Wollen kein Du sein, das man beliebig herumschubsen kann. Misstrauisch sind wir geworden, müde von all den Beschwichtigungen. Immer öfter entscheiden wir uns für das Sie.

Man kann das albern finden und für ein Zeichen der Angst und sozialen Isolation halten. Man kann dabei an spießige retro- bürgerliche Berliner Salons, an eine in ihrem Selbstbewusstsein tief gekränkte Mittelschicht denken, die, wie die Soziologin Cornelia Koppetsch sagt, heute sehr auf den Abstand und zwar vor allem auf denjenigen „nach unten“ achtet. Man kann das Sie aber auch für seine feine Skepsis lieben, ja, dieses Sie sogar nötig haben. Als eine Haltung, die der Nachdenklichkeit näher ist als dem schnellen Bescheidwissen und der weinseligen Verbrüderung. Dann darf einem auch mal ein Bestseller oder ein Blockbuster im Kino nicht gefallen, ohne dass man die Zeichen der Zeit nicht verstanden hat. Dann müsste man nicht gleich „Wut-Bürger“ werden und könnte trotzdem zornig sein. „Bleiben wir lieber beim Sie“, könnte man höflich sagen und anfangen, ernsthaft miteinander zu reden.

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