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Europa muss die Demokraten in der Türkei stärken - hier eine von Kunststudenten verwandelte Treppe in Istanbul.

© dpa

Umgang der EU mit Autokraten: Das liberale Europa muss seine Interessen wehrhafter verteidigen

Es geht nicht um Moral, sondern um die eigene Freiheit und Sicherheit. Dazu muss Europa mit der modernen Türkei kooperieren - es gibt sie noch. Ein Gastbeitrag.

Der Autor ist Schriftsteller und lebt in Berlin.

Es gibt gute Gründe dafür, die stillgelegten Beitrittsgespräche mit der Türkei endgültig abzubrechen. Doch was würde auf einen solchen Schritt folgen? Die Befürworter der türkischen Vollmitgliedschaft in der EU dachten strategisch, die Gegner kulturell und sozialpsychologisch.

Die Jasager richteten den Blick eher in die Zukunft, die Gegner in die Vergangenheit. Die ersteren sahen und sehen ein wieder erstarktes China an den Grenzen Europas stehen, ja sogar nach Europa hinein wirken, ganz zu schweigen von Putins Russland. Die Neinsager beschäftigen sich noch immer mit dem Türkensturm auf Wien 1683 oder mit den Folgen des Ersten Weltkrieges.

Wenn jetzt die Neinsager gewonnen haben sollten und der Beitritt der Türkei endgültig abgesagt wird, ist es ziemlich offensichtlich was das für Europa in absehbarer Zeit bedeuten wird. Selbst mit einer demokratisch reformierten Türkei und einem entspannteren Verhältnis zu Russland wäre es für Europa nicht einfach gewesen, der zukünftigen Dominanz Asiens zu strotzen.

Aber nun? Welche Kräfte werden Europas Außenpolitik bestimmen? Im Jahre 2020 deutet vieles daraufhin, dass das demokratische, weltoffene Europa in strategischen Fragen mehr oder weniger gelähmt ist. Anders als die Vertreter einer ultrakonservativen, nationalistisch aufgebauschten Interessenpolitik im Osten des Kontinents.

Ungarns Premier Orban betreibt eine strategische Allianz mit der Türkei

Nehmen wir ein beliebtes Beispiel: Ungarn unter der Regie Viktor Orbáns. Abgesehen von dem innenpolitischen Klima der Repression, das sein autoritärer Herrschaftsstil ausgelöst hat, ist Orbán ein wichtiger Verbündeter der Türkei unter ihrem Alleinherrscher Recep Erdogan und ein Türöffner für chinesische Interessen in Europa. Feindbild Nummer Eins in Ungarn ist der philanthropische US-Milliardär George Soros mit seinem Bildungs- und Erziehungsprogramm für eine demokratische, offene Gesellschaft.

Akademische Freiheit in Ungarn zu verteidigen, ist im ureigensten Interesse des liberalen Europa.
Akademische Freiheit in Ungarn zu verteidigen, ist im ureigensten Interesse des liberalen Europa.

© Ladislav Vallach/dpa

Ungarn aber ist Mitglied der Europäischen Union, die genau jene Werte zu vertreten hat, die Soros verbreiten will. Orbán, der keinen Hehl daraus macht, was er von muslimischen Flüchtlingen hält, ist inzwischen der zuverlässigste Partner des konservativen Islamisten Erdogan. Kein Wunder, dass es dabei nicht um die EU-Mitgliedschaft der Türkei geht. Daran haben beide kein Interesse. An solchen Paradoxen wird am Ende die gesamte EU scheitern, wenn nicht klare, bindende Regeln für alle Mitglieder aufgestellt werden.

Nehmen wir Österreich unter der Regie von Sebastian Kurz, ein vehementer Gegner des EU-Beitritts der Türkei, Befürworter eines sofortigen Abbruchs des Beitrittsprozesses. Da die Grünen, mit denen er eine Koalition eingegangen ist, keine nennenswerte Sicherheits- und Außenpolitik besitzen, und schon gar nicht eine solche nach außen hin vertreten, regiert er in solchen Fragen weitgehend allein.

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Doch welches Verhältnis hat Österreich zu Ungarn, wie sieht seine Russland- und Chinapolitik aus? Sehr servil, könnte man sage. Im übrigen trifft diese Servilität auch auf die Rechtsaußenpolitiker in der EU zu, strikte Türkeigegner mutieren auf einmal zu Russland- und Chinafreunden. Man denke an Matteo Salvini in Italien, an Marine Le Pen in Frankreich oder an die AfD in Deutschland.

Lassen sich solche Widersprüche noch auflösen? Eine solche Politik der Paradoxe entbehrt nicht nur eines moralischen Kompasses. Sie verfehlt auch jede sinnvolle, durchdachte geopolitische Strategie.

Geopolitik darf keine Domäne der Konservativen bleiben

Geopolitik war schon immer eine Domäne der Konservativen. Für Europas Zukunft wäre es von entscheidender Bedeutung, dass die liberalen, weltoffenen, demokratischen Kräfte auf diesem Gebiet aufholen. Europa braucht eine rationale, in die Zukunft gerichtete und wehrhafte Positionierung eigener Interessen. gegenüber nicht transparenten, intoleranten Systemen in seiner Nachbarschaft.

Der Weg zu einer solchen Politik führt nun einmal über eine in den Westen eingebundene Türkei, über die Stärkung der Nato, der transatlantischen Allianz. Es muss klar werden, auf welcher Seite die EU steht, wenn beispielsweise Orbán und Soros aneinandergeraten. Dabei geht es nicht um Moralpolitik, sondern schlicht um fundamentale Interessen. Es geht um die Sicherheit der freien Welt, ähnlich wie zu Zeiten des Kalten Krieges.

Es ist ein Fehler, die Beziehungen zur Türkei auf die Flüchtlingsfrage zu reduzieren. Ohne eine klare Orientierung in Weltanschauungsfragen kann weder der Kampf gegen den Islamismus noch gegen rassistische, rechtsextreme Ideologien im Inneren Europas gewonnen werden.

Die Demokraten in der Türkei brauchen Verbündete

Wir brauchen jetzt mehr Gedanken und Einwürfe auch aus der Welt der Kultur in die Sphären der Politik hinein. Wie steht es zum Beispiel um die Goethe-Institute in der Türkei, um einen ambitionierten europäischen Beitrag zum akademischen Leben in diesem Land? Wir brauchen mehr Geistesgegenwart und Ideenaustausch zur Verteidigung unserer säkularen und rationalen Lebenswelt, um die moderne Türkei, die es nach wie vor gibt, aus ihrer Isolation herauszuholen.

Die Demokraten in der Türkei brauchen eine ernstgemeinte Beitrittsperspektive. Zwischen Europa und der Türkei darf es keinen Limes geben. Oft wird vergessen wie jung die Bevölkerung dieses Landes ist und wie stark diese Jugend sich nach wie vor am freiheitlichen Westen, an der globalisierten Moderne orientiert. Doch für sie gibt es nicht einmal Visafreiheit.

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Begriffe wie Kulturgemeinschaft werden inzwischen als Kampfbegriffe eingesetzt, um andere zu degradieren, um Konflikte und inzwischen auch Kriege vorzubereiten. Kultur ist zu einer Kampfzone geworden, zwischen Volksgruppen und immer stärker auch den Religionen.

Dieser Kampf nagt an den Wurzeln der aufgeklärten, säkularen Gesellschaften, an den Grundlagen der individuellen Freiheit. Immer stärker werden kollektive Bezüge abgerufen um den Einzelnen in seiner Identität zu fixieren und seine Kommunikationsfähigkeit mit dem Anderen einzuschränken. So werden aus Kulturen Ideologien und Glaubenskreise, die sich verschließen.

Die EU muss ihr Friedensprojekt schützen - dazu braucht sie Demokraten weltweit

All diese Fragen sind auch Fragen, mit den sich Künstler beschäftigen. Für die Schriftsteller sind sie auch Fragen der Sprache und der inneren Denkwelt. Deshalb brauchen wir eine Berührung zwischen den Denkwelten aus Europa und der Türkei, wir brauchen sie stärker denn je.

Für eine klare Haltung und klare Kante in Menschenrechtsfragen sind Sonntagsreden und ritualisierte Formen der Empörung über das Böse in der Welt nicht ausreichend. Eine Allianz der Demokraten, die grenzübergreifend wirkt, tut not. Und zwar ausdrücklich über die Grenzen der EU hinaus. Diese Kräfte gibt es in Europa, aber sie haben bislang keine Strategie, um das ambitionierteste Friedensprojekt der Menschheitsgeschichte vor seinen Gegnern zu schütze – und darum handelt es sich beim europäischen Versuch, zu versöhnen und zu einen, vor seinen Gegnern zu schützen. Wer die Freiheit liebt, muss eine Sprache für sie besitzen aber auch für den Kalten Krieg gerüstet sein.

Zafer Senocak

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