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Ukrainische Flüchtlinge - und andere: „Die Bomben treffen alle“

Wer vor dem Krieg flieht, soll Schutz erhalten. Da sind sich die EU-Staaten überraschend einig. Flüchtlinge ohne ukrainischen Pass berichten aber von Problemen.

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Der Krieg Russlands hat Bewegung in die seit Jahrzehnten festgefahrene europäische Asylpolitik gebracht: In der vergangenen Woche waren sich praktisch sämtliche EU-Mitgliedsländer einig, dass geflüchtete Ukrainer:innen sofort Hilfe brauchen und daher unbürokratisch über die Grenzen gelassen werden.

Asylverfahren müssen die Kriegsflüchtlinge nicht durchlaufen. Nicht einmal mehr über eine europäische "Lastenverteilung" wurde gestritten, stattdessen wurden erstmals die alten Empfehlungen von Migrationsfachleuten beherzigt: Die Menschen sollten in das Land gehen, wo sie selbst glauben, am besten überleben zu können – weil sie Verwandte und Freunde dort haben, die helfen können, oder sich die besten Chancen ausrechnen, etwa auf Arbeit.

Doch zugleich ist die Realität an Europas Grenzen in Teilen eine andere: Zwar wird durchgewinkt, wer einen ukrainischen Pass vorweist. Für Menschen, die ihn nicht haben, gilt das aber nicht immer. Nach Berichten darüber, dass schwarze Personen an der polnischen Grenze zurückgewiesen wurden, mahnte das Deutsche Institut für Menschenrechte bereits vor einer Woche: "Die Menschenrechte verpflichten dazu, alle Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder ihren physischen Merkmalen, die Grenzen in die EU passieren zu lassen.

470.000 Nicht-Ukrainer hängen im Kriegsgebiet fest

Das gilt etwa auch für russische Staatsangehörige, Romnja und Roma, Studierende aus afrikanischen Ländern und für Geflüchtete, die in der Ukraine Schutz gefunden hatten." Auch wenn es um Kriegsflüchtlinge gehe, sei "das Diskriminierungsverbot zu beachten", mahnte Deutschlands nationale Menschenrechtseinrichtung.

Damit könnte allerdings auch Deutschland ein Problem haben. Bundesinnenministerin Nancy Faeser sah sich am Wochenende zu einer Klarstellung gezwungen: In "Bild am Sonntag" sagte die Sozialdemokratin zu, dass auch Geflüchtete aufgenommen würden, die nicht die ukrainische Staatsangehörigkeit hätten: "Wir wollen Leben retten. Das hängt nicht vom Pass ab." Menschen aus anderen Staaten, die in der Ukraine schon ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht hätten, brächten diesen Status mit. Auch sie müssten kein aufwendiges Asylverfahren durchlaufen.

Nach Schätzungen des IOM, der Migrationsorganisation der Vereinten Nationen, lebten bei Kriegsbeginn mehr als 470 000 Drittstaatsangehörige verschiedener Nationalitäten in der Ukraine, darunter viele ausländische Studierende und Arbeitsmigrant:innen.

Faeser sagte aber auch, die Bundespolizei habe die Kontrollen an den Grenzen verstärkt. "Natürlich schauen wir jetzt genauer hin, wer nach Deutschland kommt." Die Bundespolizei selbst sprach in einer Botschaft auf Twitter von "Trittbrettfahrern", die man aus dem "Vertriebenenstrom" filtern wolle, weil sie gar kein Aufenthaltsrecht in Deutschland hätten. "Maßgeblich für polizeiliche Maßnahmen", aber sei "der aufenthaltsrechtliche Status und nicht die Herkunft der Person". Die Bundespolizeidirektion reagierte damit auf entsprechende Videos in den sozialen Netzwerken, die das Gegenteil zu belegen schienen.

"Rassismus wirkt in jeder Situation"

Demnach hätten auch vier kongolesische Staatsangehörige, die in der Ukraine studieren und vor dem Krieg geflüchtet waren, eigentlich ungehindert durch Deutschland reisen können müssen. Sie wurden aber, so die Darstellung ihrer Berliner Rechtsanwältin Berenice Böhlo, am Freitagabend von der Bundespolizei aus ihrem Zug gewinkt und mussten die Nacht in der "Bearbeitungsstraße" in Markendorf bei Frankfurt an der Oder verbringen. Erst am Samstagnachmittag gegen 15 Uhr konnten sie weiterreisen. Böhlo sagte dem Tagesspiegel, alle ihre Mandanten hätten gültige Pässe und Aufenthaltstitel bei sich gehabt. Sie frage sich daher nach dem Sinn eines so langen Prüfverfahrens.

Die Bundespolizei teilte auf Anfrage des Tagesspiegels zu diesem konkreten Fall allgemein mit, falls "im Rahmen der Dokumentensichtung, hier vor allem in den voll besetzten grenzüberschreitenden Zugverbindungen, die Identität der Personen nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann bzw. Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Vertriebenensituation vorliegen, werden die Personen gebeten den Zug zu verlassen."

Probleme, Schutz in der EU zu erhalten, haben offenbar auch andere Minderheiten. Der Bundes-Romaverband forderte am Wochenende in einer Erklärung "gleiche Rechte und Hilfe für alle". Zwar gebe es eine glücklicherweise beispiellose Bereitwilligkeit, Flüchtende aus der Ukraine aufzunehmen. "Doch Rassismus als strukturelle Gewalt wirkt in jeder Situation." Dies habe für Flüchtende existenzielle Folgen.

In Umfragen stellt sich immer wieder heraus, dass Sinti und Roma, Europas größte Minderheit, auch die am meisten verachtete ist. Das verschlechtert ihre Lebensbedingungen und Chancen dramatisch. Die EU hat zur Verbesserung der Lage Programme aufgelegt und die Staaten zum Handeln verpflichtet.

Der Verband bezog sich auf Berichte, nach denen fliehende schwarze Menschen und People of Colour gezielt an der Weiterreise gehindert wurden oder keine Unterkunft erhielten. Eine Romni, die es über die Slowakei geschafft hatte, nach Leipzig zu kommen, berichtete über verweigerte Hilfe in der Slowakei. Viele Roma könnten die Ukraine deswegen gar nicht erst verlassen. So säßen in Lwiw derzeit hundert Roma fest.

Pro Asyl: Auch für russische Deserteure sorgt die EU nicht vor

Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl begrüßte am Sonntag "die klare Haltung von Bundesinnenministerin Faeser" zugunsten des Schutzes aller, die aus der Ukraine fliehen müssen. Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt warnte allerdings vor Lücken in der Garantie der EU-Länder auch für Drittstaatsangehörige: "Der dauerhafte Aufenthalt in der Ukraine, von dem die EU-Staaten sprechen, ist nicht die richtige Stellschraube, um Schutzbedürftige zu retten oder an der EU-Grenze die Einreise zu gestatten. Die Bomben treffen alle."

Nicht erfasst von der EU-Richtlinie seien zum Beispiel Transitflüchtlinge, die aus dem Kriegsgebiet fliehen, oder russische Deserteure. Ein Problem sei auch, dass die Bereitschaft der Ostmitglieder der EU, auch Nicht-Ukrainer einreisen zu lassen und ihnen Schutz zu gewähren. Sie sei "vorsichtig formuliert, mangelhaft".

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