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Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht über sein Smartphone im Zentrum von Kiew zur Nation.

© Uncredited/Ukrainian Presidential Press Office/AP/dpa

Ukrainer stehen hinter ihrem Präsidenten: „Selenskyj ist für viele ein Held“

Wolodymyr Selenskyj leistet Widerstand, fast stündlich meldet er sich zu Wort – beruhigt und motiviert. Der Präsident gilt als Ziel Nummer eins, doch er bleibt in Kiew.

Von Oliver Bilger

Der Präsident wirkt erschöpft, aber er lächelt. Am Samstagmorgen wendet sich Wolodymyr Selenkyj mit einem Video an die Menschen in der Ukraine: „Ich bin hier“, spricht er im Zentrum von Kiew in seine Handykamera. Hinter ihm liege eine schwierige Nacht, sagt er.

Nur wenige Stunden zuvor hatte er in einer anderen Videobotschaft vor dem russischen Einmarsch in der Millionen-Metropole gewarnt. „In dieser Nacht setzen sie zum Sturm auf Kiew an.“

Gerüchte, wonach er kapituliert habe oder geflohen sei, bezeichnete Selenskyj am Samstag als falsch. Dass er als Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee weiter in der Hauptstadt bleiben werde, hatte er schon am Freitag klargemacht. Ein Evakuierungsangebot der USA habe er abgelehnt, berichtete die „Washington Post“.

Vor Kriegsbeginn hätten einige damit gerechnet, dass Selenskyj die Ukraine verlassen werde, sagt Ljudmyla Melnyk, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Politik in Berlin. „Einige haben nicht gedacht, dass er so einen Widerstand leisten wird.“

Selenkyj gibt Kiew nicht auf

Dass er Kiew nicht aufgegeben hat und häufig mit den Bürgerinnen und Bürgern kommuniziert, sei gerade in Zeiten russischer Desinformation sehr wichtig. „Selenskyj ist für viele ein Held“, sagt Melnyk.

Selenskyj selbst hatte gewarnt, im Internet seien viele gefälschte Informationen aufgetaucht, „in denen behauptet wird, ich hätte unsere Armee aufgefordert, die Waffen niederzulegen. Unsere Wahrheit ist, dass dies unser Land ist, unser Land, unsere Kinder, und wir werden all dies schützen.“

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Vom Rande der Hauptstadt wurden in der Nacht zu Samstag Gefechte gemeldet, unter anderem um ein Heizkraftwerk und eine Kaserne der ukrainischen Streitkräfte. Bilder zeigten Treffer in einem Wohnhochhaus. Soldaten lieferten sich Medienberichten zufolge Gefechte auf der Siegesstraße, einer der Hauptverkehrsadern der Stadt.

Die Ukraine habe russische Angriffe im Großraum Kiew erfolgreich abgewehrt, erklärte Selenskyj am Morgen. „Der Feind hat alles gegen uns eingesetzt: Raketen, Kampfflugzeuge, Drohnen, Artillerie, gepanzerte Fahrzeuge, Fallschirmjäger.“ Jedoch sei es der russischen Armee nicht gelungen, den Widerstand der Ukrainer zu brechen. Journalisten der Nachrichtenagentur AFP meldeten am Samstag auch tagsüber Explosionen in der Stadt.

„Wir sind alle hier“

Selenskyj meldet sich derweil fast stündlich zu Wort, per Video oder Textnachricht, auf Twitter, Telegram oder Facebook. Er will informieren, beruhigen, motivieren. Immer wieder berichtet er von seinen Telefonaten mit Politikern aus aller Welt. Zu den beeindruckendsten Aufnahmen zählt ein kurzes Video vom Freitagabend.

Für Russland ist Selenskyj das „Ziel Nummer eins“. Ein Evakuierungsangebot der USA hat er trotzdem abgelehnt.
Für Russland ist Selenskyj das „Ziel Nummer eins“. Ein Evakuierungsangebot der USA hat er trotzdem abgelehnt.

© Ukraine presidency / handout/AFP

Zu sehen ist der Staatschef, gemeinsam mit Premierminister, Fraktionschef und Leiter des Präsidialamtes. „Wir sind alle hier“, spricht Selenskyj mit ruhiger Stimme. „Unsere Soldaten sind hier. Wir verteidigen unsere Unabhängigkeit. Das werden wir auch weiter tun. Ruhm der Ukraine. Ruhm den Helden.“

Der Präsident bleibt – trotz Lebensgefahr. Der Feind habe ihn als „Ziel Nummer eins“ ausgemacht, sagte der 44-Jährige zuvor. „Und meine Familie als das Ziel Nummer zwei.“ Berichten zufolge soll es russische „Todeslisten“ mit den Namen ukrainischer Bürger geben. Selenskyj selbst sagt, er wisse nicht, wie lange er noch am Leben sei.

Putin ruft zum Sturz Selenkyjs auf

Russlands Staatschef Wladimir Putin richtete sich in einer Fernsehansprache am Freitag direkt an die ukrainische Armee und forderte sie zum Sturz Selenskyjs auf. Die ukrainische Regierung bestehe aus „Terroristen“, einer „Bande von Drogenabhängigen und Neonazis“, sagte der Kreml-Herrscher.

Selenskyj reagiert auf die Verbalattacken aus dem Kreml mit besonnenen Worten. Immer wieder gelten seine Botschaften auch der russischen Bevölkerung: Er wisse, dass „viele Menschen in Russland einfach schockiert über die Schäbigkeit und Grausamkeit“ ihrer Regierung seien.

Die Russen müssten dem Kreml nun deutlich machen, „dass dieser Krieg sofort beendet werden muss“, erklärte er. „Stoppen Sie einfach jene, die Sie anlügen, die uns anlügen, die die ganze Welt anlügen.“

Selenskyjs Widerstand beeindruckt – in der Ukraine und weltweit. Im Internet loben Ukrainer ihren Präsidenten als Helden und Anführer. In Friedenszeiten habe es viel zu kritisieren zu geben, schrieb eine Nutzerin auf Twitter, das spiele nun keine Rolle mehr.

Widerstand aus verschiedenen Reihen

Der Präsident gewinnt im Krieg an Statur. Als der politisch unerfahrene Schauspieler und Komiker 2019 die Präsidentenwahl gewann, wurde er von vielen belächelt, viele waren skeptisch. Es wuchs die Unzufriedenheit, weil die Umsetzung seiner Wahlversprechen – ein Ende des Krieges in der Ostukraine, mehr Wirtschaftskraft und weniger Korruption – lahmte.

Selenskyj erlebte Widerstand aus verschiedenen Reihen, sogar aus seiner eigenen Parlamentsfraktion. Ukrainische Oppositionelle warfen ihm einen zunehmenden „populistischen Autoritarismus“ vor. Kritik gab es auch daran, dass er sein Land zu wenig auf einen drohenden russischen Angriff vorbereite.

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Das Volk steht hinter Selenskyj

Zuletzt fiel er vor allem durch überlegtes Auftreten auf. Und immer wieder auch mit seinen Reden. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz richtete er einen flammenden Appell an den Westen und forderte mehr Unterstützung. Sein Land sei ein „Schutzschild“ gegen Russland. „Acht Jahre lang hat die Ukraine eine der größten Armeen der Welt zurückgehalten“, sagte Selenskyj.

Zivilisten in Kiew rüsten ihre Waffen, um die russischen Angreifer abzuwehren.
Zivilisten in Kiew rüsten ihre Waffen, um die russischen Angreifer abzuwehren.

© Mikhail Palinchak/dpa

Unmittelbar vor der Invasion wandte er sich auf Russisch an die Bürger in Russland. „Das Volk der Ukraine will Frieden“, erklärte er. „Wenn man versucht, unser Land zu rauben, unsere Freiheit, unser Leben, das Leben unserer Kinder, dann werden wir uns verteidigen“, sagte Selenskyj. „Wenn Sie angreifen, werden Sie unsere Gesichter sehen. Nicht unseren Rücken, unsere Gesichter.“

Das Volk stehe hinter ihm, erklärt Ukraine-Expertin Melnyk, auch die Opposition, darunter selbst größte Rivalen, wie Amtsvorgänger Petro Poroschenko. Der hatte Selenskyj vor wenigen Wochen noch vorgeworfen, das Land zu verraten.

„Die Menschen kämpfen für ihr Land und ihre Freiheit“

Anstatt Putin zu bekämpfen, versuche er, „uns zu bekämpfen“, verkündete der Ex-Präsident. Mittlerweile unterstützt auch er Selenskyj. „Wir erleben eine Konsolidierung hinter dem Präsidenten“, sagt Melnyk. „Das ist sehr wichtig in diesen schwierigen Zeiten“, sagt sie.

„Die Menschen kämpfen für ihr Land und ihre Freiheit“, so Melnyk. Sie berichtet am Samstag von einem Foto, das ihr Vater aus dem Westen der Ukraine verschickte. Mit anderen Bewohnern seines Dorfes hat er eine Blockade aus Sandsäcken errichtet. Melnyk gibt seine Worte wieder: „Heute sind wir zu acht hier, morgen werden 22 kommen.“

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