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Generalprobe. Der ukrainische Komponist Valentin Silvestrov kurz vor dem Konzert «Für Freiheit und Frieden" auf Schloss Bellevue..

© dpa

Ukrainepolitik: Kampfplatz Kultur

Mit seinem Boykott des mulitnationalen Konzerts auf Schloss Bellevue hat der ukrainische Botschafter seinem Land einen Bärendienst erwiesen. Ein Kommenntar.

Von Gregor Dotzauer

"Which Side Are You On“, fragt ein legendäres Lied der amerikanischen Arbeiterbewegung, das 1931 während eines Bergarbeiterstreiks in Harlan County, Kentucky, entstand. Die Singebewegung der DDR adaptierte es als „Sag mir, wo du stehst“ in volksagitatorischer Absicht, und der linke Liedermacher Walter Mossmann trug es Mitte der siebziger Jahre unter dem Titel „Die andre Wacht am Rhein“ in die westdeutsche Antiatomkraftszene.

Mit durchaus unterschiedlichen Akzenten fordert das Lied zu einer Parteilichkeit in politischen Angelegenheiten auf, bei der es nur ein Dafür oder ein Dagegen, Freund oder Feind gibt. Für Ambiguitäten in der Sache ist kein Platz.

Bei kriegerischen Konflikten wie dem russischen Angriff auf die Ukraine gibt es nach bestem Wissen und Gewissen auch nicht viel abzuwägen: Und so zeigen die in Kundgebungen und Demonstrationen zur Schau getragene Solidarität mit dem Land, das Umsteuern in der Energiepolitik, die mehr oder weniger offene militärische Unterstützung und die praktische Hilfe für Flüchtlinge, wie sich Europa fast einmütig entschieden hat. Zusammengenommen handelt es sich um weitaus mehr als Lippenbekenntnisse.

Man kann darüber streiten, ob sich die Nato stärker engagieren müsste, mit allen Risiken, den Konflikt auf den ganzen Kontinent auszudehnen. Doch wer etwa eine Flugverbotszone über der Ukraine fordert, sollte sich im Klaren sein, dass es sich dabei nicht um einen rein rhetorischen Akt moralischer Selbstberuhigung handelt, sondern im Fall der Einrichtung um eine praktische Eskalation.

Ein Affront?

Nun werden die Spannungen ausgerechnet auf einem Gebiet verschärft, das sie eigentlich auflösen könnte: der Musik. Jüngstes Beispiel ist der Boykott, mit dem der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk am Sonntag ein Konzert bedachte, das Bundespräsident Steinmeier mit ukrainischen, russischen, belarussischen und polnischen Musikern auf Schloss Bellevue „Für Frieden und Freiheit“ veranstaltete. „Nur russische Solisten, keine Ukrainerinnen“, vermeldete der Botschafter auf Twitter. „Ein Affront. Sorry, ich bleibe fern.“

Er erwähnte nicht, dass Valentin Silvestrov, der bekannteste ukrainische Komponist, gleich zweimal auf dem Programm stand – und seit Kurzem in Berlin lebt: Er hat im Wissenschaftskolleg Zuflucht gefunden. Und er verschwieg, dass der russische Pianist Jewgeni Kissin, der auch einen britischen und israelischen Pass besitzt, ein erklärter Gegner dieses Krieges ist.

Wer die Verhältnisse so schief interpretiert und einen Keil zwischen die gutwilligsten Allianzen treibt, muss sich auch in nervösen Zeiten nach seinem diplomatischen Rüstzeug fragen lassen. Wie kann man sich zu einem solchen Rigorismus versteigen?

Wenn man die Gründe nicht in der Person Melnyk suchen will, findet man sie in einem allgemeinen Bedürfnis nach Ersatzhandlungen, wenn einem alle unmittelbaren Einwirkungsmöglichkeiten entzogen sind. Dieses Bedürfnis hat nun auch ins offizielle deutsche Kulturleben Einzug gehalten.

Kriegsverbrechen Leningrader Blockade

Mit der berühmten „Leningrader Sinfonie“ von Dmitri Schostakowitsch ist ein Stück in Misskredit geraten, das die Befreiung der Sowjetunion von der Belagerung der Stadt durch deutsche und spanische Truppen während des Zweiten Weltkriegs feiert. Die Leningrader Hungerblockade gilt als eines der größten Kriegsverbrechen des 20. Jahrhunderts.

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Erst wurde sie im Berliner Konzerthaus aus dem Programm gestrichen – als würde ihre humanistische Universalität nicht auch zum Nekrolog auf Mariupol taugen. Demnächst muss sie, erneut zugunsten der fünften Sinfonie, bei den Münchner Philharmonikern in der Elbphilharmonie weichen – als wäre Schostakowitschs halbherzige Verbeugung vor Stalin weniger problematisch.

Nebenkriegsschauplätze. Doch gerade wer auf die zivilisierende Kraft von Musik vertraut, darf ihre möglichen Ambiguitäten nicht unterschlagen. Das Bedürfnis nach Eindeutigkeit lässt sich besser anderswo befriedigen.

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