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Gemüsegarten in Niger mit solarbetriebender Wasserpumpe

© IMAGO/Joerg Boethling

Ukrainekrieg und Getreidemangel: Wie Afrika selbst mehr Nahrungsmittel produzieren kann

Ackerflächen sind vorhanden. Europa muss jetzt Technik und Know-How stellen. Plädoyer für eine neue Ernährungspartnerschaft. Ein Gastbeitrag.

Ein Gastbeitrag von Günther H. Oettinger

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Günther H. Oettinger, ehemaliger Ministerpräsident von Baden-Württemberg und EU-Kommissar für  Haushalt und Personal, Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, Energie, heute Präsident der Wirtschafts- und Politikberatung United Europe e.V. in Hamburg. Weitere Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup, Prof. Dr. Renate Schubert und Jürgen Trittin.

Hungersnot als Waffe: Die aktuellen Zahlen werfen ein Schlaglicht auf die beängstigende Lage. Nach Angaben der Welthungerhilfe sind trotz der Beschlüsse des G7-Gipfels zur Ernährungssicherheit weltweit 811 Millionen Menschen akut vom Hunger bedroht, rund zwei Milliarden leiden unter Mangelernährung. Zeitgleich befinden sich gut 100 Millionen Menschen auf der Flucht. Am schlimmsten ist die Lage auf unserem Nachbarkontinent Afrika.

„Afrika ist der Situation hilflos ausgeliefert“, sagte der Präsident der Afrikanischen Union (AU), Macky Sall Anfang Juni nach einem Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin in Sotschi. Sall rief die Regierung in Kiew auf, die Minen zu entfernen, die das ukrainische Militär zum Schutz vor russischen Angriffen im Schwarzen Meer verlegt hatte.

Sanktionen und Minen, so der AU-Chef, verhinderten den Export von Millionen Tonnen Getreide aus der Ukraine – obwohl diese Tonnen zur Vermeidung von Hungersnöten und astronomisch steigenden Getreidepreisen dringend in Afrika gebraucht würden. Das war ganz im Sinne Russlands, das wohl schon die ersten Schiffe mit Weizen nach Afrika geschickt hat, der aus ukrainischen Silos geraubt wurde.

Afrikanische Staaten übernehmen das russische Narrativ

Damit folgt Sall, der auch Staatschef im Senegal ist, dem Narrativ des Kremlchefs und verdeutlicht gleichzeitig, wie wenig erfolgreich der Besuch von Kanzler Olaf Scholz jüngst in Dakar war. Nach Ansicht von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron droht Afrika in eine „Falle“ jenes Mannes zu geraten, der die Ukraine überfallen hat und den Weizenengpass als Waffe nutzt, um Stimmung gegen die vom Westen verhängten Sanktionen zu machen.

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Senegal hatte sich im März wie 16 andere afrikanische Staaten in der UN-Vollversammlung bei der Verurteilung des russischen Einmarschs in die Ukraine der Stimme enthalten, acht weitere Länder nahmen erst gar nicht an der Abstimmung teil. Den Ländern des Westens und insbesondere den Europäern haftet nach wie vor der Geruch der Kolonialherrschaft an. Russland und China hingegen haben noch viele Freunde bei den alten afrikanischen Freiheitskämpfern und ihren Nachfahren.

Weizen als Waffe – das sorgt für enorme Probleme. Russland und die Ukraine lieferten bislang fast die Hälfte des Weizens, den Afrika benötigt, rund 50 Millionen Tonnen im Jahr. Die Preise sind laut der Afrikanischen Entwicklungsbank schon um 60 Prozent gestiegen, auf zuletzt fast 350 Euro pro Tonne, zahlbar in Devisen, von denen die Länder Afrikas wenig besitzen. Während in der Ukraine Zivilisten im russischen Bombenhagel sterben und auf beiden Seiten bereits zehntausende Soldaten getötet wurden, drohen in Afrika neue Hungerkatastrophen.

Unter Dürren fast biblischen Ausmaßes und Ernteausfällen leiden nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO vor allem die Länder am Horn von Afrika, also Jemen, Eritrea, Dschibuti, Somalia und Äthiopien – Länder, in denen es zum Teil seit vier Jahren kaum oder gar nicht mehr geregnet hat.

Ob der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan im Konflikt um die Blockade der ukrainischen Häfen vermitteln kann? Zweifel sind angebracht. Die Türkei ist von russischem Weizen fast ebenso abhängig wie Deutschland von Putins Gas. Vielleicht können die Vereinten Nationen erfolgreich vermitteln. Womöglich muss der Westen auch mit Geld helfen, Geber-Konferenzen und Weizen-Hilfslieferungen organisieren.

Hungernöte lösen schnell Fluchtbewegungen aus

Niemand weiß, wie lange der russische Angriffskrieg noch dauern wird. Von Hungerkatastrophen allerdings weiß man aus der Vergangenheit, wie schnell sie neue Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa auslösen – und damit nicht selten auch politische Beben. Wir erinnern uns: Der „Arabische Frühling“ begann im Dezember 2010 in Tunesien mit Protesten gegen steigende Lebensmittelpreise, ehe er eine ganze Region in Aufruhr stürzte.

Allerdings sind die drohenden Hungerkrisen mehr als ein Lieferketten-Problem, ausgelöst durch Russlands Überfall auf die Ukraine. Die Krisen zeigen vielmehr wie unter einem Brennglas vergrößert einen viel grundsätzlicheren Notstand: Der ganz Kontinent Afrika ist Kostgänger der großen Agrar-Exporteure Russland, Ukraine, USA und Kanada.

Billiger Weizen aus Europa hat die Hirse verdrängt

Zu diesem Abhängigkeitsverhältnis hat auch Europa seinen Teil beigetragen. Nur ein Beispiel: Als Europas Bauern in den 1980er-Jahren dank üppiger Subventionen aus Brüssel einen Weizenberg produziert hatten, fand Frankreich Absatzmärkte in seinen ehemaligen Kolonien. Deutsche Bauern folgten auf den Fuß.

Der billige Weizen verdrängte die afrikanische Hirse, das Baguette wurde zum neuen Lifestyle. Keine Chance mehr für die traditionelle, mindestens so nahrhafte Hirse. Im Senegal etwa sank seitdem der Prokopf-Verbrauch von Hirse von 80 Kilo im Jahr auf nur noch 25 Kilo, umgekehrt stieg der Verbrauch von Weizen von zehn auf 40 Kilo.

Kein Kontinent ist von Trockenperioden und Klimawandel so stark betroffen wie Afrika. Auf keinem Kontinent gibt es auch ein derartiges Bevölkerungswachstum: Lebten zwischen Kapstadt und Kairo 1950 lediglich 240 Millionen Menschen, sind es heute bereits 1,3 Milliarden. 2050, schätzen die Vereinten Nationen, werden es 4,5 Milliarden sein, die Hälfte der Weltbevölkerung, doppelt so viel wie in Indien, China, den USA und Europa zusammen.

Wie Afrika wieder autarker werden kann

Wie sollen sie gesättigt werden? Experten von Nichtregierungsorganisationen wie „Brot für die Welt“ empfehlen, zunächst alte, kleinteilige Landwirtschaftsstrukturen zu reaktivieren und die Bauern mit modernem Saatgut zu versorgen, also mit Züchtungen für traditionelle Grundnahrungsmittel wie Hirse oder Maniok, die auch gegen Hitze und Dürren resistenter als Weizen sind.

Um den Anteil der Eigenversorgung nachhaltig zu erhöhen, müssen für die Produktion von Grundnahrungsmitteln aber auch großflächigere Anbaustrukturen entwickelt werden. Grundsätzlich gibt es in Afrika ausreichend Flächen, die man landwirtschaftlich nutzen kann. Sogar mit Weizen. Was fehlt sind Know-how, moderne Technik und Bewässerungsanlagen. Darüber hinaus gibt es nicht genug Kapital, um Afrikas Landwirtschaft für den Bedarf der Zukunft auszubauen.

Deutschland und die Europäische Union hätten für eine Ernährungspartnerschaft mit Afrika alle Fähigkeiten: Agrarwissenschaft, Agrartechnik und Agrochemie könnten entscheidende Beiträge leisten, wenn Wirtschaft und Politik das nur wollten. Eine solche Partnerschaft ist nicht in unser aller Interesse, sondern auch seit langem überfällig.

Günther H. Oettinger

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