zum Hauptinhalt
Demonstranten vor dem Verfassungsgericht in Kiew. Rauchbomben in den Farben der Nationalflagge (2.11.2020).

© AFP / Sergey Supinsky

Ukraine: Die höchstrichterliche Krise

Die Justiz in der Ukraine sabotiert Gesetze zur Korruptionsbekämpfung. Ein Gastbeitrag.

Miriam Kosmehl arbeitet im Programm Europas Zukunft der Bertelsmann Stiftung zur Bedeutung von Antikorruption für Demokratie und Rechtsstaat.

Das ukrainische Verfassungsgericht war für den früheren Präsidenten Janukowytsch von Beginn an ein nützliches Instrument. Die Kassenbücher seiner „Partei der Regionen“ verzeichnen schwarze Zahlungen an das Verfassungsgericht in Höhe von 6 Millionen US-Dollar. Die Hilfe gipfelte im Oktober 2010 darin, dem Ex-Präsidenten faktisch ein starkes Präsidialsystem zu ermöglichen. Diese Entscheidung steht bis heute exemplarisch für die mangelnde Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit.

Aktuell wettern einzelne Verfassungsrichter laut dagegen, von der Exekutive, nun in Gestalt Präsident Selenskys, unter Druck gesetzt zu werden. Die Richter haben auf Initiative zweier Parlamentsfraktionen Institutionen und Regeln für das Vorgehen gegen Korruption wieder abgeschafft, die Reformer nach der Flucht Janukowytschs nach Russland mühsam aufgebaut hatten. Der neue Präsident will deshalb das Verfassungsgericht per Gesetz auflösen. Dafür wird er etwa von der Venedig-Kommission kritisiert.

Es geht vor allem darum, dass das Verfassungsgericht das obligatorische Vermögensregister für Staatsbedienstete kurzerhand abgeschafft hat. Selbst die Ukrainer waren erstaunt, welche Reichtümer manche Staatsdiener angehäuft hatten. Nach langen Jahren unfähiger oder unwilliger Leitung hat die für das Register zuständige Nationale Agentur zur Prävention von Korruption seit 2020 zum ersten Mal eine professionelle Leitung.

Im Parlament sitzen mächtige Interessenvertreter. Hinter den Fraktionen, die das Verfassungsgericht angerufen haben, stehen Finanzgruppen und regionale Klan-Strukturen mit Partikularinteressen. Die paar Dutzend reformorientierten Abgeordneten, Aktivisten oder Experten, die die Revolution der Würde in den Jahre 2014 bis 2019 ins Parlament gespült hatte, waren ein Novum.

Eigeninteresse gegen Allgemeininteresse

Auch unter den 246 Abgeordneten der neu eingezogenen Partei „Diener des Volkes“ finden sich Volksvertreter im wahren Sinne des Wortes. Aber nicht so viele, dass der Präsident sich auch nur einer einfachen Mehrheit von 226 Abgeordneten sicher sein könnte, wenn es darum geht, für das Wohl aller Ukrainer gegen Partikularinteressen zu handeln. Geschweige denn, dass er mit einer Mehrheit von 300 die Verfassung ändern könnte – was zudem die Zustimmung des Verfassungsgerichts erforderte.

Eine Zweidrittelmehrheit aus den eigenen Reihen ist die Voraussetzung für die Entlassung der Verfassungsrichter, damit diese frei von Einfluss von außen sind. Aber die reformorientierten Richter sind deutlich in der Unterzahl.

Gegen einige Richter ermitteln die Antikorruptionsbehörden. Es geht um die Verletzung der Offenlegungspflichten für Vermögen und andere Interessenskonflikte. Gegen den Gerichtspräsidenten ist ein Verfahren wegen Hochverrats anhängig. Das Antikorruptionsbüro ermittelt zudem gegen den Vorsitzenden Richter eines hohen Verwaltungsgerichts, das Entscheidungen von Staatsorganen aufheben kann, wegen unlauterer Einflussnahme auf das Verfassungsgericht.

Das Nationale Antikorruptionsbüro und dessen Direktor hat das Verfassungsgericht bereits ins Visier genommen. Auch das Hohe Antikorruptionsgericht ist in Gefahr. Zudem drohen Urteile, die die Errungenschaften von Boden- und Bankenreform rückgängig machen. Beides sind Errungenschaften nach 2014 – und die Voraussetzung für IWF-Kredite, von denen wiederum Kredite anderer Geber abhängen.

Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit

Wenn Selensky dennoch mitnichten genug Unterstützung im Parlament hat, liegt das auch daran, dass einige befürchten, er könne ein neues Gericht mit Loyalisten etablieren. Aber auf den Rechtsstaat berufen sich auch die Richter, an deren Unabhängigkeit berechtigte Zweifel bestehen. Ein Verfassungsrichter droht dem Präsidenten offen mit „Krieg“ und „150 Jahren Gefängnis“ und unterstellt ihm, den „Kollaps der Ukraine“ zu betreiben.

Alle Aktionen des Verfassungsgerichts zusammengenommen, sind der systematische Versuch, effektive Korruptionsermittlungen zu behindern und einen Bruch mit den westlichen Partnern herbeizuführen. Sie bringen die Ukraine in eine katastrophale Lage. Dies alles zu einem Zeitpunkt, zu dem die USA mit sich selbst beschäftigt sind. Washington hat am ehesten Einfluss in der Ukraine, weil das Land auf US-amerikanische nachrichtendienstliche Unterstützung angewiesen ist, wenn es sich gegen die russische Aggression an seiner Ostgrenze behaupten will.

Präsident Selensky bezeichnete seinen Gesetzentwurf als „Damoklesschwert“. Er solle verhindern, dass die Verfassungsrichter mit weiteren Urteilen die Landreform oder das Hohe Antikorruptionsgericht antasten. Vorerst hat die Regierung angeordnet, dass die Gerichtsentscheidung nicht umgesetzt wird, die Vermögenserklärungen von Staatsbediensteten weiter zugänglich bleiben.

[Wenn Sie die wichtigsten Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Die Verfassung müsste geändert werden

Das Hohe Antikorruptionsgericht hat aber bereits Fälle geschlossen, die auf der Grundlage von Vermögenserklärungen anhängig waren. Der korrekte Weg zur Reform des Verfassungsgerichts wäre eine Verfassungsänderung. Die bräuchte 300 Abgeordnetenstimmen, anschließend eine Anerkennung durch das Verfassungsgericht, danach wieder 300 Stimmen. Gegen einzelne Richter vorzugehen könnte eine Möglichkeit sein. Allen Alternativvorschlägen ist gemein, dass sie entweder gegen die Verfassung verstoßen oder die utopische Zustimmung des Verfassungsgerichts selbst erfordern.

Die Krise ist nicht die erste, die zeigt, dass richterliche Selbstverwaltung nicht funktioniert. Strukturen, die andernorts ihren Dienst tun, etwa Hohe Richterräte, können in den falschen Händen ein fatales Instrument sein. Das Hohe Antikorruptionsgericht, dessen Gründung sich unter Präsident Poroschenko verzögert hat und das unter Präsident Selensky endlich eingerichtet wurde, zeigt zumindest, wie die Neubesetzung mit Richtern unter schwierigen Umständen gehen kann: Die Richterkandidaten wurden von einem unabhängigen Gremium überprüft, das internationale Juristen einschloss.

Miriam Kosmehl

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false