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Ukrainische Soldaten stehen am Stadtrand von Charkiw.

© Vadim Ghirda/AP/dpa

Überraschende Schlappen der russischen Armee: Nun wird sogar ein Sieg der Ukraine denkbar

Putin tobt, weil die Truppen seine Ziele nicht erreichen. Ex-Nato-Oberbefehlshaber Clark sieht Chancen, sie mit etwas mehr westlicher Unterstützung zu schlagen.

Wladimir Putin hatte sich einen Blitzkrieg vorgestellt. Rascher Vorstoß nach Kiew, Sturz der Regierung Selenskyj, ein Marionettenregime als Ersatz, das sich bedingungslos Russland unterstellt. Und dann entscheiden, welche ehemalige Sowjetrepublik als nächstes dran ist: Moldawien und/oder die Baltischen Staaten.

Doch nach gut zwei Wochen kommt der Angriff kaum noch voran. Seit Tagen erzielen die russischen Streitkräfte nur noch kleine Geländegewinne. Und sie bezahlen dafür mit hohen Verlusten - weit höheren als auf ukrainischer Seite.

Zunächst erklärten Militärexperten das Stocken des Vormarschs damit, dass Putins Truppen sich neu aufstellen für vernichtende Vorstöße gegen Kiew, Charkiw, Mariupol und Odessa. Neue Analysen sprechen jedoch von einer überraschenden Unfähigkeit, zum Beispiel der russischen Luftwaffe, zu komplexen Operationen. Putin reagiere darauf „wütend und frustriert“, melden Geheimdienste.

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Anfangs ließen sich die Prognosen der Fachleute so zusammenfassen: Die Ukrainer leisten einen entschlossenen und bewundernswerten Widerstand. Am Ende aber werde sich die russische Übermacht durchsetzen.

Inzwischen mehren sich die Stimmen, die den Ausgang des Krieges als offen einschätzen. Von der „Kunst der operativen Kriegführung,“ der sich russische Generäle stets rühmen, sei bei der Invasion nicht viel zu erkennen gewesen, fasst das amerikanische Institute for the Study of War (ISW) zusammen.

Wesley Clark, Ex-Oberbefehlshaber der Nato, hier auf einem Archivfoto während des Kosovokriegs 1999.
Wesley Clark, Ex-Oberbefehlshaber der Nato, hier auf einem Archivfoto während des Kosovokriegs 1999.

© DARKO BANDIC/AFP

Der frühere Nato-Oberbefehlshaber Wesley Clark sieht sogar die Chance, dass eine Steigerung der westlichen Militärhilfe die Ukraine in die Lage versetzen kann, die russischen Truppen zu besiegen und aus der Ukraine zu vertreiben. Er hatte das Bündnis in der Zeit des Kosovo-Kriegs geführt.

Damit verschieben sich die Erwartungen, welche Zugeständnisse die Ukraine oder Russland bei Verhandlungen machen müssen. Je länger und erfolgreicher die Ukraine standhält, desto besser für ihre Position.

Die Ukraine ist "nur die erste Schlacht", die nächste betrifft Nato-Gebiet

Clark hält mehr westliche Militärhilfe auch für geboten. Der Krieg um die Ukraine sei „nur die erste Schlacht“, sagt er im Gespräch mit der Deutschen Welle. Und zugleich „die leichteste Schlacht“.

Putin habe angekündigt, dass es ihm um die Wiederherstellung des sowjetischen Machtbereichs gehe. Wenn der Westen sich durch seine Drohung mit Atomwaffen davon abhalten lasse, der Ukraine die entscheidende Unterstützung zu geben, dann „findet die nächste Krise auf Nato-Gebiet statt“, warnt Clark mit Blick auf die baltischen Staaten.

Mehr zum Krieg gegen die Ukraine lesen Sie bei Tagesspiegel Plus:

Die eigentliche Überraschung ist für den Ex-Oberkommandeur der Nato nicht die Entschlossenheit der Ukrainer, sondern „wie ineffektiv die russischen Truppen vorgehen“. Ähnlich äußern sich andere Militärexperten, vom amerikanischen ISW über das britische Royal United Services Institute (rusi) bis zum European Council on Foreign Relations (ECFR)

Im Winterkrieg in Finnland gab die Rote Armee schließlich auf

Für die Fachleute des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK) weckt die Entwicklung Assoziationen an den „Winterkrieg“ 1939. Damals griff die Sowjetunion Finnland an. Das Land wehrte sich erbittert. Die Rote Armee musste enorme Verluste einstecken und zog letztendlich wieder ab.

Die Erkenntnisse des ISPK aus gut zwei Wochen Krieg: Seit dem 24. Februar hat Russland die Ukraine in vier Stoßrichtungen angegriffen.

  • Die erste zielte vom nördlich gelegenen Belarus aus auf Kiew.
  • Die zweite vom Nordosten auf Charkiw.
  • Die dritte von Osten auf den Donbass, über die bereits von den Separatisten kontrollierten Gebiete hinaus, und auf die Hafenstadt Mariupol.
  • Die vierte von der 2014 annektierten Krim im Süden auf die Südukraine, um das Land komplett von seinen Häfen abzuschneiden.

Der Überfall begann mit schweren Raketenangriffen auf Treibstofflager und andere Vorräte des ukrainischen Militärs sowie auf Luftabwehrstellungen und Flugplätze. Inzwischen hat der Krieg gegen Städte begonnen. Sie werden eingeschlossen und beschossen, darunter zivile Versorgungseinrichtungen wie Krankenhäuser, Wasser- und Kraftwerke sowie die Lebensmittelversorgung. So ist Putin auch in Tschetschenien und Syrien vorgegangen.

Die Einnahme von Kiew scheitert an entschlossener Gegenwehr

Im Kampf um Kiew scheiterte gleich anfangs der Versuch, den Flughafen Hostomel im Handstreich zu nehmen, am Widerstand der Ukrainer. Seit dem 1. März bildet sich von Norden eine kilometerlange Kolonne aus gepanzerten Fahrzeugen, Versorgungs-Lkw und Artillerie. Sie ist ein Ziel ukrainischer Angriffe aus dem Hinterhalt am Boden und aus der Luft, darunter mit Drohnen.

"Hit and run": Ukrainische Kämpfer greifen aus dem Hinterhalt russische Panzerkolonnen an, hier bei Brovary im Nordosten von Kiew. Die Aufnahme wurde mit einer Drohne gemacht.
"Hit and run": Ukrainische Kämpfer greifen aus dem Hinterhalt russische Panzerkolonnen an, hier bei Brovary im Nordosten von Kiew. Die Aufnahme wurde mit einer Drohne gemacht.

© Ukrainian Military Defense/ZUMA Press Wire Service/dpa

Die Versuche, die Hauptstadt in einer Zangenbewegung über Vororte im Westen und im Osten zu umzingeln, kommen nur langsam voran. Auch hier kämpfen die Ukrainer erfolgreich mit „Hit and run“-Attacken, siehe dieses Video.

Fällt die Hauptstadt, muss Präsident Selenskyj ausweichen

Eine Strategie ist nicht zu erkennen. Will Putin Kiew einnehmen oder einkesseln und aushungern? Wartet er, bis Soldaten und Söldner eintreffen, die im Städtekampf in Tschetschenien und Syrien Erfahrung haben?

Die täglichen Ansprachen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj aus der Hauptstadt Kiew, die den Angriffen standhält, sind eine moralische Unterstützung für die Truppen.
Die täglichen Ansprachen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj aus der Hauptstadt Kiew, die den Angriffen standhält, sind eine moralische Unterstützung für die Truppen.

© Ukrainian Presidential Press Office/AP/dpa

Klar ist aber auch: Würde Kiew fallen oder ein Überleben dort nicht mehr gesichert sein, müsste Präsident Selenskyj die Hauptstadt verlassen, vermutlich nach Lemberg nahe der Westgrenze zu Polen. Seine täglichen Ansprachen aus Kiew sind eine moralische Stütze für den Widerstand.

Beim Angriff auf Charkiw ist das russische Militär bis zu 100 Kilometer tief in die Ukraine vorgestoßen. Es vermochte die Millionenstadt jedoch nicht einzunehmen und beschießt sie nun, um die Bevölkerung zur Aufgabe zu bewegen.

Charkiw: Russische Angriffe Blick auf einen Kinderspielplatz und Wohnhäuser.
Charkiw: Russische Angriffe Blick auf einen Kinderspielplatz und Wohnhäuser.

© Andrew Marienko/AP/dpa

An den Fronten im Osten (Donbass) und Süden (Krim) konnten die Angreifer beträchtliche Geländegewinne erzielen. Das hat auch damit zu tun, dass die Ukraine ihre begrenzten Militärkräfte auf die Verteidigung von Kiew und der Zentralukraine konzentriert. Und dass sie nicht riskieren möchte, dass einzelne Einzelheiten fern der Hauptstadt abgeschnitten und gefangen genommen werden.

Rücksichtsloser Krieg gegen die Städte und ihre Zivilbevölkerung

Nahezu aussichtslos ist die Lage der Hafenstadt Mariupol. Die Russen bombardieren sie, um die überlebenswichtige Infrastruktur zu zerstören und die Kapitulation zu erzwingen. Auch eine Geburtsklinik wurde angegriffen. Absprachen über Fluchtkorridore für Zivilisten hielten die Belagerer nicht ein. Das Beispiel zeigt zugleich: Auch Gebiete, die in den meisten Kriegskarten bereits als russisch erobert markiert sind, sind nicht verlässlich unter russischer Kontrolle.

Mariupol: Mariana Vishegirskaya und ihr Baby Veronika überlebten den russischen Luftangriff auf die Geburtsklinik.
Mariupol: Mariana Vishegirskaya und ihr Baby Veronika überlebten den russischen Luftangriff auf die Geburtsklinik.

© Evgeniy Maloletka/AP/dpa

Auf der Krim hat Putin seit der Annexion 2014 eine große Militärpräsenz aufgebaut. Die Truppen stoßen von dort in zwei Richtungen vor: nach Norden und Westen.

Die Großstadt Cherson haben sie eingenommen. Da die Hafenstadt Mikolajiw sich trotz tagelanger Belagerung hält, versuchen russische Truppen sie zu umgehen, um auf das noch wichtigere Odessa vorzustoßen. Die Stadt hat einen prorussischen Bürgermeister. Vor dem Hafen warten russische Landungsschiffe.

Die Siegformel der Ukraine: Bessere Moral plus mehr Material

Alles in allem sind die russischen Angreifer den ukrainischen Verteidigern in Sachen Material weit überlegen. Umgekehrt verhält es sich bei der Kampfmoral. Und die ist mittel- und langfristig entscheidend, argumentiert Eliot A. Cohen von der Johns-Hopkins-Universität.

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Dafür müsse der Westen den Ukrainern mit signifikanten Waffenlieferungen helfen, um ihre materielle Unterlegenheit auszugleichen. In der Kombination aus Moral und Material liege ihre Chance zum Sieg.

Aber: Riskiert der Westen nicht einen Krieg mit Russland, wenn er die Ukraine umfassend militärisch unterstützt? Putin droht mit dem Einsatz von Atomwaffen.

Das Risiko des Einsatzes von Atomwaffen

Das sei zwar nicht auszuschließen, aber nach der russischen Militärdoktrin unwahrscheinlich, solange die Nato nicht russisches Staatsgebiet angreife, sagt Ex-Oberbefehlshaber Clark.

Ein Nachgeben wegen dieser Furcht verschiebe das Problem nur in die Zukunft. „Wenn Putin die Ukraine verdaut hat“ und mit den Baltischen Staaten weitermache: „Sagen wir dann, wir ergeben uns, weil Putin Atomwaffen hat?“, fragt Clark.

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Wie fast alle Experten lehnt auch er ein offenes Eintreten der Nato in den Krieg ab, ebenso die Durchsetzung einer Flugverbotszone über der Ukraine durch die Allianz. Aber jedes einzelne westliche Land solle sich etwas trauen und aus Eigeninteresse alles tun, damit Putin den Krieg in der Ukraine nicht gewinnt. Das sei die beste Garantie, dass der Wille, die baltischen Staaten zu verteidigen, nie auf die Probe gestellt wird.

Der Tenor der Analysen und Empfehlungen hat sich jedoch nach zwei Wochen Krieg verschoben. Aus der Erwartung, dass die militärische Niederlage der Ukraine nur eine Frage der Zeit sei, ist Zuversicht geworden, dass die Ukraine Putin eine empfindliche Niederlage zufügen kann, wenn der Westen ihr die nötige Militärhilfe gibt.

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