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Es wäre möglich, aber widersinnig, nach rechts abzubiegen.

© Thomas Reimer - stock.adobe.com

Über Drosten, Habeck, Hitze, Waffen und Abtreibung: Im Strudel der Fassungslosigkeiten

Manchmal bündeln sich wie in einem Brennglas die Signaturen der Gegenwart. Ein Beispiel dafür ist diese 25. Woche des Jahres 2022. Eine Glosse

Eine Glosse von Malte Lehming

Was ist die Nachricht des Tages? Diese Frage müssen Medienmacher, wie Redakteure oft genannt werden, laufend beantworten. Was steht oben auf der Homepage, was ist die Schlagzeile auf der ersten Seite, mit welcher Meldung macht die Tagesschau auf? Verschiedene Faktoren sind wichtig: der Neuigkeitswert, die Relevanz, die Bedeutung für das Leben.

Es kennzeichnet diese 25. Woche des Jahres 2022, dass sich in die Entscheidungsfindung ein Quäntchen Willkür mischt. Immer mehr Kandidaten stehen zur Auswahl, die alle Kriterien erfüllen. Die Konkurrenz ist hart und deprimierend. Wie in einem Brennglas bündeln sich die Signaturen der Gegenwart. Wer die Meldungen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, im Stakkato-Rhythmus liest, gerät leicht in einen Strudel der Fassungslosigkeiten.

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Hier ein paar Beispiele:

Christian Drosten, Deutschlands berühmtester Virologe, befürchtet eine massive Corona-Herbstwelle. Ab September, sagt er, „werden wir sehr hohe Fallzahlen haben“. Im Arbeitsleben könne es „sehr viele krankheitsbedingte Ausfälle“ geben. Auch die Hospitalisierungs- und Todeszahlen könnten wieder ansteigen. Lässt sich das abwenden? „Wir müssten es schaffen, vor dem Winter noch einmal bis zu 40 Millionen Leute zu immunisieren.“ Na dann.

Als würde der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben

Schlimmer als Corona dürfte allerdings die schwere Wirtschaftskrise wegen der Gasproblematik werden, warnt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Die Drosselung der russischen Lieferungen sei ein „ökonomischer Angriff“ auf Deutschland. Wladimir Putin wolle Angst schüren: „Denn durch die materielle Not, durch die hohe Inflation, durch die hohen Energiepreise haben natürlich Menschen Angst.“ Vor Armut und Wohlstandseinbußen und dem Verlust dessen, „was sie sich aufgebaut haben in einem langen Leben“. Was tun? Es sei notwendig, sagt Habeck, der als Minister auch für den Klimaschutz zuständig ist, dass Deutschland wieder zu klimaschädlicher Kohle greift, um den Gasverbrauch in der Industrie zu senken.

Das wirkt auf Klimaschutzaktivisten, als würde der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Hitzewellen treten immer früher und intensiver auf, sagt die Sprecherin der Weltwetterorganisation. In Teilen Spaniens und Frankreichs sind die Thermometer schon mehr als zehn Grad über den Mittelwert geklettert. Schuld daran seien die rekordhohen Konzentrationen von Gasen in der Atmosphäre, die den Treibhauseffekt verursachten.

Ein rapider Anstieg hitzebedingter Morbidität

Dazu passt eine jüngst veröffentliche Lancet-Studie, der zufolge im legendären Sommermonat August 2003 in zwölf europäischen Ländern insgesamt etwa 70.000 Menschen an den Folgen der Hitze starben. Laut Berechnungen der „Zeit“ starben 2018 bis zu 2000 Menschen mehr an Hitze als im ganzen Jahr im Straßenverkehr. Auch das Umweltbundesamt prognostiziert einen rapiden Anstieg hitzebedingter Morbidität.

Wer nicht an Hitze stirbt, könnte an Hunger leiden. Agrarminister Cem Özdemir sieht voraus, dass die Lebensmittelpreise weiter steigen. Er glaube nicht, „dass wir schon den Höhepunkt erreicht haben“, sagt er.

Begriffe wie Resilienz sollen den Willen stärken

Und wo bleibt das Positive? Zumindest Deutsche können sich darüber freuen, nicht in den USA zu leben. Dort nämlich hat das Oberste Gericht das Tragen einer Waffe zu einem Grundrecht erklärt. Zur Erinnerung: Im Mai hatte ein 18-Jähriger im Bundesstaat New York offenbar aus rassistischen Motiven mit einem Sturmgewehr zehn Menschen ermordet. Kurz darauf tötete ein ebenfalls 18-Jähriger in der texanischen Kleinstadt Uvalde 19 Kinder und zwei Lehrerinnen. Insgesamt steigt weiterhin die Zahl der verkauften Schusswaffen und derjenigen, die durch Schusswaffen ums Leben kommen.

Vor allem auch deutsche Frauen können sich darüber freuen, nicht in den USA zu leben. Das jüngste Urteil des Supreme Court, das das Recht auf Abtreibung abschafft, wird für Millionen amerikanische Frauen verheerende Folgen haben. Darüber hinaus zeugt es von einem abgrundtiefen Misstrauen gegenüber der generellen Fähigkeit von Frauen, in einer Konfliktsituation, die auch ihren eigenen Körper betrifft, ein moralisch richtiges Urteil zu fällen. Mehr Paternalismus geht kaum. Laut US-Verfassungsgericht beginnt menschliches Leben nun mit der Empfängnis und endet in einer Grundschule, weil 18-Jährige in der Öffentlichkeit Waffen tragen dürfen.

So weit für heute. Dabei fehlt vieles. Etwa die dramatische Lage in der Ukraine, wo russische Truppen weiter wüten, die Folgen des Erdbebens in Afghanistan, die anhaltende Dürre in Teilen Afrikas. Der Planet stöhnt und ächzt. Appelle ans Durchhalten suggerieren, dass ein Ende absehbar ist. Begriffe wie Resilienz sollen den Willen stärken. Verzichten lernen wird als Parole ausgegeben.

Über allem liegt ein Hauch von Melancholie. Und von Trotz. Und von Sehnsucht nach Hoffnungsfreude.

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