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Das geht ins Geld. Das Leben in der Metropole Istanbul hat sich nach Angaben der Stadtverwaltung durchschnittlich um 50 Prozent verteuert.

© Emrah Gurel/dpa

Türkische Opposition begehrt auf: Erdogan versetzt seine Währung in den freien Fall

Der Wert der türkischen Währung sinkt dramatisch, weil Erdogan die Leitzinsen senken lässt – viele Türken verarmen. Die Opposition ist im Angriffsmodus.

Flammende Reden vor einer begeisterten Menschenmenge sind in der türkischen Politik bisher die Domäne von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Doch jetzt zog Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu bei einem Auftritt im südtürkischen Mersin Zehntausende Menschen an.

Seine Oppositionskollegin Meral Aksener plant sogar Massenkundgebungen gezielt an den Orten, an denen Erdogan einst große Publikumserfolge feierte. Die türkische Opposition ist anderthalb Jahre vor den nächsten Wahlen im Angriffsmodus – weil Erdogan ein Vabanque-Spiel mit der Wirtschaft begonnen hat, das Millionen Türken verarmen lässt.

Allein in den vergangenen drei Monaten hat die Lira mehr als ein Drittel an Wert verloren. Die Reallöhne sinken, die Lebenshaltungskosten steigen. Das Planungsamt der oppositionsregierten Stadtverwaltung Istanbul hat errechnet, dass sich das Leben in der Metropole im vergangenen Jahr um durchschnittlich 50 Prozent verteuert hat. Der Preis für Sonnenblumenöl ist demnach um 137 Prozent gestiegen, Toilettenpapier ist 90 Prozent teurer geworden. An den Tankstellen muss ein Normalverbraucher etwa 15 Prozent seines Netto-Monatseinkommens für eine einzige Tankfüllung ausgeben.

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Erdogan will zwar den Mindestlohn von derzeit etwa 180 Euro im Monat anheben, doch einen Kurswechsel lehnt der Präsident ab. Er will mit niedrigen Zinsen und dem niedrigen Lira-Kurs einen Exportboom auslösen. Die explodierende Inflation nimmt er in Kauf. In einigen Monaten werde es wieder aufwärts gehen, verspricht der Staatschef. Verbraucher, die ihre Ersparnisse zum Schutz vor der Inflation in Dollar oder Euro umgewandelt haben, sollten die Devisen verkaufen, um der Wirtschaft zu helfen, fordert er.

Im Vorstand seiner Partei AKP entwarf Erdogan Medienberichten zufolge das Bild einer Türkei, die sich nach dem Vorbild Chinas zu einem internationalen Zentrum der Industrieproduktion entwickeln und dank niedriger Kosten neue Investoren anziehen werde. „Uns geht es nur um eines: Exporte, Exporte, Exporte“, sagte der Präsident demnach. Er setzt darauf, dass die Talsohle durchschritten wird, bevor große Teile der Bevölkerung verarmt sind. Spätestens im Juni 2023 stehen Wahlen an.

Inflation liegt bei 21 Prozent

Ob Erdogans Plan funktioniert, ist höchst ungewiss. Die Inflation liegt offiziell bei 21 Prozent, aber unabhängige Wirtschaftsexperten schätzen sie auf fast 60 Prozent. Als Kilicdaroglu, Chef der linksnationalen Partei CHP, vorige Woche das staatliche Statistikamt besuchen wollte, um über die Zahlen zu sprechen, wurde ihm der Zutritt verwehrt.

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„Wenn das Statistikamt die Inflationswerte nach unten frisiert und das wahre Ausmaß verschleiert, dann bedeutet das im Klartext, dass Arbeiter, Beamte und Rentner weniger Geld bekommen“, sagte Kilicdaroglu. Das befürchten auch viele Bürger. Die Zustimmung für Erdogans AKP sei erstmals unter 30 Prozent gefallen, sagt der Meinungsforscher Mehmet Ali Kulat. Die Opposition habe eine „gemeinsame Sprache gefunden“.

Besonders die scharfzüngige Aksener entwickelt sich zu einer gefährlichen Gegnerin des Präsidenten. Vor der Parlamentsfraktion ihrer konservativen Partei IYI verspottete sie kürzlich Erdogans wirtschaftspolitische Grundthese, wonach die Zinsen gesenkt werden müssen, um die Inflation zu bekämpfen – die Volkswirtschaftslehre sage dagegen, dass die Zinsen angehoben werden müssen.

Erdogan verwechsle Ursache und Wirkung, sagte Aksener und persiflierte die Wirtschaftstheorie des Präsidenten so: „Der Regenschirm ist die Ursache, der Regen ist die Wirkung. Wenn ich den Schirm öffne, regnet es. Wenn ich den Schirm einklappe, hört der Regen auf. Jedes Mal, wenn er so dumm daherredet, fällt die Lira gegen den Dollar, steigt die Inflation – und unser Volk verarmt weiter.“ Jedem einzelnen der 83 Millionen Staatsbürger seien durch den Verfall der Lira und den Anstieg der Staatsverschuldung binnen einer Woche acht monatliche Mindestlöhne aus der Tasche geholt worden, rechnete Aksener vor. „Und was macht unsere Regierung? Sie sagt, wir sollten eben weniger Fleisch essen, und frisches Gemüse sei im Winter ohnehin ungesund – diese großen Ernährungsexperten.“

Die Opposition wittert Chancen

Im Aufwind ist auch die Oppositionspartei Deva des früheren Wirtschaftsministers Ali Babacan. Erdogan wolle „Arbeitskraft verbilligen, den Schweiß unserer Arbeiter entwerten, unser Volk unter Billiglöhnen erdrücken, bis es den Kopf nicht mehr heben kann“, sagt Babacan. „Auf so ein Wachstum pfeifen wir.“

Zusammen kommen CHP, IYI und Deva in den Umfragen auf etwa 46 Prozent, während das Bündnis aus AKP und MHP unter 40 Prozent liegt. Die Oppositionsparteien können zudem mit Unterstützung der pro-kurdischen HDP rechnen, die bei zehn Prozent gesehen wird. Erdogan hat noch etwas Zeit, um den Trend umzukehren. Doch wenn sich die Wirtschaft nicht rasch erholt, wird es eng für ihn.

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