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Präsident Recep Tayyip Erdogan - hier am vergangenen Samstag bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des gescheiterten Putsches vor einem Jahr - geht mit harter Hand gegen Kritiker vor.

© Uncredited/Presidency Press Service/AP/dpa

Türkei: Terror-Vorwurf gegen Menschenrechtler

Die türkische Justiz nimmt sechs Aktivisten in U-Haft – die kann bis zu fünf Jahre dauern. Amnesty spricht von einem "Angriff auf die Zivilgesellschaft".

Ein Boutique-Hotel war der diskrete Treffpunkt, ein paar Gehminuten von der Anlegestelle entfernt – schon verdächtig genug. Das Thema des Workshops der Bürgerrechtler hat die türkische Polizei aber noch viel mehr alarmiert: „Digitale Sicherheit und Informationsmanagement“. Am 5. Juli stürmt ein Polizeikommando das Hotel Ascot auf der Büyükada, der größten der Prinzeninseln vor Istanbul, und schleppt die zehn Workshop-Teilnehmer samt Hotelmanager auf die Wache. Knapp zwei Wochen brütet die Staatsanwaltschaft über der Begründung für einen Haftantrag. Montagnacht geht er vor Gericht im Istanbuler Justizpalast nach mehrstündiger Anhörung durch. Amnesty International (AI) ist fassungslos. Ein „Angriff auf die Zivilgesellschaft“, sagt der Europa-Direktor von AI, John Dalhuisen.

Sechs der zehn Bürgerrechtler kommen in Untersuchungshaft, darunter Idil Eser, die Direktorin von Amnesty International in der Türkei. Es ist eine weitere Zäsur auf dem Weg der Türkei zu einem Regime mit stark beschnittener Meinungsfreiheit. „Sie beschuldigen uns im Grunde, Menschenrechtsarbeit zu tun“, sagt Andrew Gardner, ein leitender Mitarbeiter von Amnesty in Istanbul dem Tagesspiegel. Er spricht von einer existenziellen Bedrohung für Menschenrechtsorganisationen in der Türkei. Nächste Woche schon könne es den nächsten Bürgerrechtler treffen.

„Mir geht es sehr gut, macht euch keine Sorgen!“, sagt Özlem Dalkiran, eine der festgenommenen Bürgerrechtlerinnen, noch wartenden Freunden auf dem Korridor, als sie am Montag mit ihren Kollegen dem Richter vorgeführt wird. Dalkiran ist eine frühere Leiterin von Amnesty International in der Türkei und nun aktiv in der Helsinki Citizens Assembly. Auch die anderen Teilnehmer des Workshops auf Büyükada sind renommierte Menschenrechtsaktivisten in der Türkei.

Unterstützung einer Terrororganisation lautet der Befund der Staatsanwaltschaft. Auf die Frage, um welche Terrororganisation es sich handeln soll, habe der Staatsanwalt nicht geantwortet, sagt Meriç Eyüpoglu, ein Anwalt der Menschenrechtler, nach dem Gerichtstermin. Zwei Referenten des Workshops, der Deutsche Peter Steudtner und der iranischstämmige Schwede Ali Gharavi, bleiben ebenfalls in Haft. Vier der Bürgerrechtler lässt der Richter unter Auflagen frei.

Die Anschuldigungen seien schwerwiegend, erklärt Andrew Gardner, „das kann lange dauern“. Bis zu fünf Jahren sitzen in der Türkei Gefangene in U-Haft. Der deutsch-türkische Korrespondent der Tageszeitung „Die Welt“, Deniz Yücel, und die deutsche Übersetzerin und Journalistin Mesale Tolu sind in dieser Lage. Einen Termin für ein Gerichtsverfahren gibt es nicht. Tolu ist mit ihrem zweijährigen Sohn in eine Zelle gesteckt worden. Anfang Juni ließ die Justiz bereits den Leiter von Amnesty International in der Türkei, den Anwalt Taner Kilic, festnehmen. Auch er kam in U-Haft. Bei Kilic nannte die Staatsanwaltschaft zumindest eine „Terrororganisation“: Er soll dem Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen angehören. Die türkische Führung macht ihren früheren politischen Partner für den Putsch vom Vorjahr verantwortlich.

Europaminister muss sich in Brüssel unbequemen Fragen stellen

Auf die Richterentscheidung wird der türkische Europaminister Ömer Celik wohl angesprochen werden, wenn er am Mittwoch nach Brüssel kommt, um über einen Fortgang der Beitrittsgespräche zu beraten. Die Regierungsmehrheit im türkischen Parlament stimmte am Montag ein weiteres Mal der Verlängerung des Ausnahmezustands um drei Monate zu.

Ihren „Terrorismus“-Vorwurf gegen die Workshop-Teilnehmer stützt die Istanbuler Staatsanwaltschaft offenbar auf einen geheimen Zeugen, der die zehn Bürgerrechtler belastet. Dabei soll es sich nach Informationen der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“ um einen Übersetzer handeln, der für den mehrtägigen Workshop arbeitete. Möglicherweise habe der ja etwas falsch verstanden, sagte Idil Eser, die Amnesty-Direktorin, während der Gerichtsverhandlung am Montag laut „Cumhuriyet“.

Zudem wird dem Türkei-Büro von Amnesty International zum Vorwurf gemacht, eine Unterschriftenkampagne für zwei entlassene Lehrer organisiert zu haben. Nuriye Gülmen und Semih Özakça waren am Dienstag seit 132 Tagen im Hungerstreik. Beide sind während ihres Hungerstreiks ebenfalls als angebliche Terroristen in Haft genommen worden; nun wird bereits mit ihrem Tod gerechnet.

Schon wieder kursieren Verschwörungstheorien

Dass US-Botschafter John Bass am Montag auch noch demonstrativ ins Büro von Amnesty International in Istanbul ging und ein Foto seines Solidaritätsbesuchs veröffentlicht wurde, hat die Führung in Ankara besonders verärgert. Die üblichen Verschwörungstheorien sind wieder im Umlauf: CIA und der britische Geheimdienst MI6 würden auf Büyükada geheime Konferenzen organisieren. Das Ziel sei ein neuer Aufstand in der Türkei. Schon seit Tagen geht ein Abgeordneter der Regierungspartei aus dem ostanatolischen Erzurum mit dieser Komplott-Geschichte hausieren. In der Türkei findet er damit offene Ohren.

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