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Auch die deutsche Journalistin Mesale Tolu hat ihren Sohn mit in der Haft.

© Stefan Puchner/dpa

Türkei: Jeden Tag landet ein Kind im Gefängnis

Rund 700 Mädchen und Jungen sitzen mit ihren Müttern in der Türkei in Haft. Der von Erdogan verhängte Ausnahmezustand hat die Situation noch verschärft.

Auf dem letzten Bild in der Freiheit hält ihr Sohn eine kleine Wiesenblume in der Hand und strahlt. Blumen kann sich der Zweijährige jetzt nur noch in Bilderbüchern anschauen. Seine Mutter ist Mitte August ins große Stadtgefängnis von Diyarbakir gesteckt worden. Der Sohn kam mit in die Zelle.

Das ist längst kein Einzelfall in der Türkei: Bei 668 stand nach Angaben des Justizministeriums im Juli die Zahl in Haft gehaltener Babys und Kinder. Angesichts der täglichen Festnahmen im Land dürfte die Zahl bereits auf die Marke von 700 zugehen. Reza Zugurli, die nun mit ihrem Sohn im Typ-E-Gefängnis von Diyarbakir sitzt, war einmal die jüngste Bürgermeisterin der Türkei. Anfang des Jahres ist die 29-Jährige im Rahmen des Ausnahmezustands von ihrem gewählten Amt in Lice enthoben und durch einen staatlichen Verwalter ersetzt worden wie Dutzende andere Bürgermeister im kurdischen Südosten.

Bis zum Alter von sechs Jahren

Die Justiz wirft der Ex-Bürgermeisterin Unterstützung einer Terrorgruppe vor – der Arbeiterpartei Kurdistans PKK. In Zugurlis Fall soll es in der Vergangenheit bereits eine Verurteilung zu einer mehrjährigen Haftstrafe gegeben haben. Deshalb soll die junge Kurdenpolitikerin gleich in ein Gefängnis überführt worden sein. Mutter und Kind trennt man dabei gewöhnlich nicht. Das türkische Gesetz gibt der Mutter das Recht, ihr Kind bis zum Alter von sechs Jahren mit in die Haft zu nehmen.

Doch die Massenfestnahmen seit dem vereitelten Putsch und der Verhängung des Ausnahmezustands im Sommer vergangenen Jahres haben einen prekären Zustand auf bereits hohem Niveau noch verschärft: 504 Kinder lebten im Mai 2016 – also vor Beginn der Massenfestnahmen – mit ihren Müttern in Gefängniszellen. Wie viele von ihnen von der Leerung der Gefängnisse für die neuen Häftlinge ab Juli 2016 profitierten, ist nicht klar. Im September 2016 waren aber bereits 528 und im April dieses Jahres 560 Kinder inhaftiert. Innerhalb von drei Monaten stieg die Zahl dann um 20 Prozent auf 668 im Juli – 324 Mädchen und 344 Jungen. 149 dieser Kinder waren ein Jahr alt oder jünger. Die Zahlen gab das türkische Justizministerium auf Anfrage einer Abgeordneten der Oppositionspartei CHP bekannt. Praktisch jeden Tag kam zwischen April und Juli eine Mutter mit Kind ins Gefängnis.

Eine UN-Konvention schützt die Kinder

Unicef in der Türkei verweist auf die Kinderrechtskonvention der UN. Staaten sollen sicherstellen, dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird, heißt es dort. Allerdings auch, dass ein Kind das Recht auf Bildung, Spiel und Freizeit für seine körperliche, geistige und soziale Entwicklung hat. Eine Inhaftierung sollte deshalb nur das letzte Mittel sein, heißt es.

In Europa bemüht man sich darum, dass möglichst wenig Kinder in Haftanstalten müssen. In Österreich lag die Zahl über die Jahre im Durchschnitt bei unter zehn Fällen. In der Türkei des „Gegenputsches“ von Staatschef Recep Tayyip Erdogan ist die Justiz nicht zimperlich. Meldungen über Mütter, die gleich nach der Geburt von wartenden Polizisten als angebliche Gülen-Anhängerinnen in U-Haft gebracht werden, gibt es in diesen Wochen immer wieder. Der Prediger Fethullah Gülen wird von Erdogan für den Putschversuch vom Juli 2016 verantwortlich gemacht. So wurde im Mai eine junge Lehrerin in Zonguldak an der Schwarzmeerküste nur drei Tage nach der Geburt ihres Babys in Haft genommen. Ähnliches geschah gerade auch in Adana. Nationalistische Kreise in der Türkei verbreiteten bereits das Gerücht, Gülen habe befohlen, dass Mitglieder seiner Bewegung schwanger werden sollen. Auch die deutsche Journalistin Mesale Tolu sitzt mit ihrem zweijährigen Sohn Serkan in einer Gemeinschaftszelle im Frauengefängnis in Istanbul. Der 33-Jährigen wird vorgeworfen, die linksextreme Terrorgruppe DHKP-C zu unterstützen. Ihr Prozess soll am 11. Oktober beginnen.

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