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Mediziner behandeln einen Coronavirus-Patienten in Istanbul (Symbolbild).

© Yasin Akgul/dpa

Update

Türkei enthüllt katastrophale Corona-Lage: Mehr als 29.000 Neuinfektionen pro Tag – Krankenhäuser teils überfüllt

Seit Sommer hat die Türkei geschönte Corona-Zahlen veröffentlicht. Jetzt zeigt sich: Die Lage ist dramatisch - und die Glaubwürdigkeit der Regierung beschädigt.

Geahnt hatten es viele Türken schon lange, jetzt ist es offiziell: Die Corona-Pandemie wütet in ihrem Land viel schlimmer als von der Regierung bisher zugegeben. Mit mehr als 29.000 Neuinfektionen am Donnerstag nach 28.351 am Vortag breitet sich das Coronavirus in der Türkei schneller aus als in jedem Land Europas.

Gesundheitsminister Fahrettin Koca musste bei einer Pressekonferenz am Mittwochabend auch einräumen, dass in einigen Krankenhäusern die Betten knapp werden – nachdem es lange hieß, es gebe keine Probleme. Koca hatte Ende Juli die Zählweise für sein tägliches Corona-Tableau plötzlich umgestellt.

Seitdem veröffentlichte er nur noch die Zahl von „Patienten“ mit Krankheitssymptomen und nicht mehr die Gesamtzahl der positiv Getesteten, die auch Covid-Fälle ohne Symptome beinhaltet. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig – zuletzt wurden rund 7000 „Patienten“ pro Tag gemeldet, während Länder wie Deutschland mit 20.000 Neuinfektionen am Tag kämpften.

Mit dem Blick durch die rosa Brille schaffte es die Türkei, dass ihre Urlaubsregionen lange von internationalen Reisewarnungen ausgenommen blieben. Zudem lobte sich die Regierung selbst, sie habe besser auf die Pandemie reagiert als die Behörden in anderen Ländern.

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Opposition und Ärzteverbände hielten der Regierung dagegen eine gefährliche Schönfärberei vor – und behielten recht. Am 28. Juli, dem letzten Tag vor Kocas umgestellter Zählweise, lag die Zahl der positiven Corona-Tests bei 963.

Den neuen Angaben des Ministers zufolge ist die Zahl seitdem um mehr als das 30-fache gestiegen. Koca legte erstmals am Mittwoch die neuen Zahlen vor; am Donnerstagabend gab er einen weiteren Anstieg der täglichen Neuinfektionen auf 29.132 bekannt.

Unterschied zwischen geschöntem Lagebild und Realität wurde zu groß

Dass die Regierung jetzt ihren Kurs ändert, liegt zum Teil an der Jahreszeit: Die Feriensaison ist vorbei, der potenzielle Nutzen manipulierter Zahlen für den Fremdenverkehr hat sich erledigt. Ohnehin sind Länder wie Deutschland der Türkei auf die Schliche gekommen und haben ihre Reisewarnungen auf die Urlaubsregionen des Landes ausgedehnt.

Die künstlich niedrig gehaltenen Fall-Zahlen hatten auch den ungewollten Nebeneffekt, dass die Sterberate in der Türkei höher aussah als in anderen Ländern. Vor allem aber wurde die Schere zwischen dem geschönten offiziellen Lagebild und dem Alltag des Landes immer größer.

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Ärzte berichteten von überfüllten Kliniken, Patienten erzählten Freunden und Verwandten, wie sie von Krankenhaus zu Krankenhaus oder sofort nach Hause geschickt wurden. Die Türken bemerkten immer mehr Corona-Fälle im Betrieb oder im Büro, bei ihren Nachbarn oder in ihrer Familie.

Istanbul veröffentlicht schon länger eigene Corona-Zahlen

Die oppositionsgeführte Stadtverwaltung von Istanbul veröffentlicht seit einiger Zeit die täglichen Totenzahlen in der Stadt und offenbart damit die Manipulation der Regierung. So verzeichnete das Friedhofsamt am 23. November 201 Todesopfer von Infektionskrankheiten allein in der Stadt am Bosporus – Minister Koca gab die landesweite Gesamtzahl der Toten durch Covid-19 für diesen Tag mit 153 an.

Die Regierung weist die Angaben mit dem Argument zurück, zu den Infektionskrankheiten gehöre nicht nur Covid. Allerdings spricht die Übersterblichkeit in Istanbul eine deutliche Sprache. In der 16-Millionen-Metropole sterben derzeit mehr als 400 Menschen pro Tag – doppelt so viele wie in den Vorjahren zu dieser Jahreszeit.

Indirekt räumte die Regierung vor kurzem die wachsende Gefahr ein, indem sie einen landesweiten Teil-Lockdown an den Wochenenden anordnete. „Man hat uns betrogen“, sagte der prominente Journalist Ismail Yilmaz nach Bekanntgabe der neuen Infektionszahlen durch Minister Koca.

Polizisten sprechen mit Menschen, die sich wenige Minuten nach Beginn der Sperrstunde auf der Istiklal-Straße, der Haupteinkaufsstraße in Istanbul, befinden.
Polizisten sprechen mit Menschen, die sich wenige Minuten nach Beginn der Sperrstunde auf der Istiklal-Straße, der Haupteinkaufsstraße in Istanbul, befinden.

© Emrah Gurel/AP/dpa

Mit den neuen Zahlen „sind wir die Nummer Fünf der Welt“. Nach anderen Berechnungen liegt das Land nach den USA und Indien, die wesentlich mehr Einwohner haben als die Türkei, sogar auf Rang Drei der Nationen mit den meisten Infektionen pro Tag. Die Regierung habe die Bürger angelogen, um den Fremdenverkehr zu retten und strenge Ausgangssperren zum Schaden der Wirtschaft zu vermeiden, sagte Yilmaz im Fernsehsender Habertürk.

Das Land leidet unter einer zweistelligen Inflationsrate, einem starken Wertverlust der Lira und unter einem drastischen Rückgang der Devisenreserven. Yilmaz schimpfte, die Regierung scheue strenge Corona-Maßnahmen - „nicht weil das Virus weg ist, sondern weil kein Geld mehr da ist“.

Wird die Öffentlichkeit der neuen Statistik vertrauen?

Ab jetzt werde die Zahl der täglichen Neuinfektionen immer genannt, versprach Minister Koca. Doch die Glaubwürdigkeit der Regierung ist inzwischen so beschädigt, dass sich die Frage stellt, ob die Öffentlichkeit den neuen Statistiken vertrauen wird. Die Opposition verlangt einen mehrwöchigen Lockdown, um die Pandemie unter Kontrolle zu bekommen.

Bisher verzeichnet die Türkei offiziell knapp 13.000 Corona-Tote. Bis zum Beginn des Frühjahrs im März könnten weitere 100.000 Menschen sterben, wenn nichts geschehe, warnte der Parlamentsabgeordnete und Arzt Mustafa Adigüzel. Die Regierung setzt dagegen auf den Beginn von Impfungen mit dem Präparat CoronaVac des chinesischen Herstellers Sinovac im Dezember.

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