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Aufgegriffen. Türkische Sicherheitskräfte haben afghanische Flüchtlinge an der Grenze festgesetzt.

© REUTERS

Türkei ändert ihre Flüchtlingspolitik: „Wenn die Grenzer uns erwischen, prügeln sie mit Stöcken“

Die Türkei vollzieht eine Wende in ihrer Flüchtlingspolitik und beginnt mit illegalen Abschiebungen. Präsident Erdogan reagiert damit auf wachsenden Unmut.

Auf afghanische Flüchtlinge wartet nach der beschwerlichen Reise über den Iran nach Westen eine neue Gefahr: die sofortige Zwangsabschiebung aus der Türkei. „Wenn die türkischen Grenzer uns erwischen, prügeln sie uns mit Stöcken und schicken uns zurück in den Iran“, sagte ein Afghane kürzlich dem Lokaljournalisten Rusen Takva in der osttürkischen Provinz Van.

Diese illegalen Push-Backs markieren eine radikale Wende in der Flüchtlingspolitik der Türkei. Nachdem die Türkei, auch auf Wunsch Europas, rund fünf Millionen Schutzsuchende aufgenommen hat, will sie ihre Grenze jetzt schließen und mit der Rückführung von Flüchtlingen in ihre Heimatländer beginnen.

An der Grenze zum Iran baut die Türkei unter Hochdruck an Mauern, Wachtürmen und Überwachungsanlagen. Damit sollen Afghanen ferngehalten werden, die seit der Machtübernahme der Taliban zu Tausenden über den Iran in die Türkei fliehen. Hunderttausende Afghanen leben schon in der Türkei, dazu fast vier Millionen Geflüchtete aus Syrien.

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Bisher setzte Präsident Recep Tayyip Erdogan auf eine „Politik der offenen Tür“, die insbesondere den Syrern eine sichere Bleibe in der Türkei versprach. Doch jetzt kann sich der Präsident nicht mehr darauf verlassen, dass die Türken dabei mitmachen. Die Stimmung ist gekippt.

Bei ausländerfeindlichen Krawallen in Ankara in diesem Sommer plünderte ein Mob im Arbeiterviertel Altindag die Geschäfte von Syrern. Altindag sei kein Sonderfall, berichtet der Demoskop Bekir Agirdir vom Meinungsforschungsinstitut Konda. Vier von fünf Türken wollten keine Flüchtlinge mehr, sagte er im Internet-Fernsehkanal Medyascope.

Ressentiments an der AKP-Wählerbasis

Nach dem Kriegsausbruch in Syrien vor zehn Jahren sahen die meisten Türken die Versorgung der Flüchtlinge als vorübergehendes Problem. Ein Konzept zur Integration der Syrer in die türkische Gesellschaft gibt es nicht. Syrer haben zwar Zugang zum türkischen Gesundheitssystem und zum Bildungswesen. Arbeitsgenehmigungen bekommen aber nur die wenigsten, die meisten arbeiten schwarz. Das schafft Ressentiments, auch an der Wählerbasis von Erdogans Partei AKP.

Die Flüchtlingsfrage hat die Regierung Erdogan angreifbar gemacht. Zwei Wochen nach den Ausschreitungen von Altindag wurde in Ankara eine Partei gegründet, die sich die Abschiebung aller Flüchtlinge auf die Fahnen geschrieben hat. Auch die größte Oppositionspartei, die linksnationale CHP, hat das Flüchtlingsthema ins Zentrum gestellt gemacht.

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CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu nennt das es eine „Schicksalsfrage“. In der nordwesttürkischen Stadt Bolu kündigte der CHP-Bürgermeister Tanju Özcan an, er werde die kommunalen Wasser- und Abfallgebühren für Ausländer um das Zehnfache erhöhen. „Warum tun wir das? Weil wir wollen, dass sie gehen!“

Erdogan sagte in einer Ansprache an die Nation, er sei sich bewusst, dass es Unmut in der Bevölkerung gebe. Ausschreitungen gegen Flüchtlinge würden aber nicht geduldet. Zudem pochte Erdogan auf die Verantwortung der EU: Europa sei das eigentliche Ziel vieler Flüchtlinge. „Die Türkei hat weder die Pflicht noch die Schuldigkeit, sich als Flüchtlingslager für Europa herzugeben.“

"Marionette" der EU?

Schon einmal hatte Erdogan versucht, die Unterstützung der EU einzufordern, als er im März vergangenen Jahres tausende Flüchtlinge an die griechische Grenze schickte. Der Versuch scheiterte: Griechenland schlug die Flüchtlinge mit europäischer Rückendeckung und brachialer Gewalt zurück. In der EU verspielte Erdogan damit viel guten Willen und Ansehen für die großzügige Flüchtlingspolitik der Türkei. In der Türkei selbst wird er dagegen als Erfüllungsgehilfe der EU angeprangert. CHP-Chef Kilicdaroglu nennt Erdogan eine „Marionette“ der Europäer.

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Seit Jahresbeginn verhandelt die EU mit der Türkei über eine Verlängerung des Flüchtlingspakts von 2016. Beim EU-Gipfel am 21. und 22. Oktober soll die Neuauflage beschlossen werden, so war es zumindest beim letzten Gipfel im Juni noch geplant. Inzwischen ist ungewiss, ob Erdogan sich die Fortschreibung des Abkommens innenpolitisch noch leisten kann.

Auf der Suche nach einem Ausweg blickt die türkische Regierung nach Nordsyrien. Erdogan und sein Außenminister Mevlüt Cavusoglu fordern europäische Unterstützung für die freiwillige Rückführung syrischer Flüchtlinge in jene Teile Syriens, die nicht vom Regime in Damaskus kontrolliert werden. Mit Jordanien, dem Libanon und dem Irak, die ebenfalls viele Syrer aufgenommen haben, hat Ankara eine gemeinsame Initiative für die Rückführung begonnen. Die „offene Tür“ schlägt zu.

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