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Syrische Kinder sammeln auf einer Deponie Munitions- und Artilleriereste, um etwas zum Lebensunterhalt ihrer Familien beizutragen.

© Anas Alkharboutli/dpa

Traumatisiert durch Krieg, Terror und Hunger: Hat die „verlorene Generation“ im Nahen Osten noch eine Chance?

Gewalt, Armut und keine Schule: Im Nahen Osten wachsen Millionen Kinder in größter Not auf. Kann mehr Geld ihnen helfen?

Sie kennen nur Krieg, Terror und Hunger. Millionen Kinder von Syrien bis zum Jemen sind unterernährt, in ihrer Entwicklung gehemmt oder traumatisiert von Bombenangriffen und dem Tod von Eltern und Geschwistern. Viele haben seit Jahren keine Schule mehr besucht.

Nicht nur für die Kinder selbst ist das eine Katastrophe. Denn die sozialen und wirtschaftlichen Langzeitfolgen können Konflikte und Instabilität in den betroffenen Ländern anfachen. Hilfsorganisationen warnen, die Not von heute nähre die Fluchtbewegungen von morgen – im Nahen Osten wächst eine „Verlorene Generation“ auf.

Mark Cutts kennt das Problem aus eigener Anschauung. In Syrien erlebt der stellvertretende UN-Regionalleiter für humanitäre Hilfe, wie Gewalt, Entbehrung und bittere Armut das Leben der Kinder zerstören. Sie werden bei Gefechten und Luftangriffen verletzt, verlieren Gliedmaßen oder das Augenlicht, sie sehen ihre Geschwister oder ihre Eltern sterben.

Sie werden aus ihrer Heimat vertrieben und müssen in Zelten oder Ruinen zerstörter Häuser leben. Mehr als jeder zweite Bewohner Syriens hat in zehn Jahren Krieg seine Heimat verlassen müssen. Das Land erlebe „die schwerste Vertreibungskrise des 21. Jahrhundert“, sagt Cutts im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

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Viele Minderjährige sind zudem traumatisiert. „Es gibt Kinder, die nachts schreiend aufwachen“, berichtet Cutts. Manche verzweifeln so sehr, dass sie sich das Leben nehmen.

Im Nordwesten Syriens, der von Rebellen gehalten und immer wieder von syrischen und russischen Militärs angegriffen wird, zählte die Kinderhilfsorganisation Save the Children im vergangenen Jahr 42 Suizide und Suizidversuche von Kindern unter 15 Jahren. In der Altersgruppe der 16- bis 20-Jährigen waren es Hunderte.

Mädchen und Jungen sind die Hauptleidtragenden der Konflikte

Nach Zahlen des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte sind in zehn Jahren Krieg in Syrien fast 30.000 Kinder umgekommen, darunter 181 junge Folteropfer.

Auch im Bürgerkriegsland Jemen leiden die Kinder. Seit dem Ausbruch des Konflikts im Armenhaus der arabischen Welt vor sechs Jahren sind nach Angaben des UN-Kinderhilfswerkes Unicef mehr als 10.000 Kinder getötet oder verletzt worden. Mehr als elf Millionen brauchen humanitäre Hilfe, zwei Millionen sind unterernährt, fast eine halbe Million davon könnten verhungern, wenn sie nicht rasch Hilfe erhalten.

Auch im Irak, in Libyen oder in Gaza zählen Kinder zu den Hauptleidtragenden der Konflikte.

Selbst in Regionen, wo die Versorgung mit Lebensmitteln einigermaßen funktioniert, fehlt vielen Kindern etwas Entscheidendes: die Schule. Im Nahen Osten und Nordafrika gab es schon vor Beginn der Pandemie für rund 15 Millionen Kinder im Alter zwischen fünf und 14 Jahren keinen Unterricht, wie ein Bericht von Unicef, Weltbank und der UN-Bildungsorganisation Unesco dokumentiert. Nahezu zwei von drei Kindern in der Region konnten schon damals nicht richtig lesen.

Viele Schulen in Syrien sind zerstört oder werden als Flüchtlingsunterkünfte genutzt.
Viele Schulen in Syrien sind zerstört oder werden als Flüchtlingsunterkünfte genutzt.

© Muhammed Said/Anadolu/Getty Images

Die Pandemie habe diese Trends noch verschlimmert, sagt Juliette Touma, Unicef-Sprecherin für Nahost und Nordafrika. Wie auch in Europa wurden im vergangenen Jahr in der Region die Schulen vorübergehend geschlossen. „110Millionen Kinder blieben zu Hause“, berichtet Touma.

Anders als in Deutschland oder vergleichbaren Ländern, wo Heranwachsende in den Online-Unterricht wechselten, war für viele Jungen und Mädchen im Nahen Osten erst einmal Schluss mit der Schulbildung. Fast 40 Millionen Kinder in der Region haben keinen Zugang zu Computern, Smartphones oder Internet.

Im Nordwesten Syriens gehen 60 Prozent der Kinder nicht zur Schule

Unicef, Weltbank und Unesco sagen voraus, dass nach der Pandemie der Anteil der bildungsarmen Kinder, die nicht in der Lage sind, altersangemessene Texte zu lesen und zu verstehen, von derzeit 60 auf 70 Prozent steigen wird. In Syrien seien einige Heranwachsende wegen des Krieges in ihrem Land seit zehn Jahren nicht mehr in der Schule gewesen, sagt Touma. UN-Hilfskoordinator Cutts schätzt, dass derzeit 60 Prozent der Kinder im Nordwesten Syriens, einem Gebiet mit rund drei Millionen Menschen, nicht zur Schule gehen.

Ein Schaden von 900 Milliarden Euro

Auch wenn sie sofort in die Klassenräume zurückkehren könnten, wäre ihre Zukunft ungewiss. Die Bildungssysteme in vielen Ländern des Nahen Ostens sind veraltet und dienen den Interessen der Herrschenden, die kein unabhängiges Denken und keine kritischen Fragen wollen.

Der Gesamtschaden für die Region könnte laut Unicef, Weltbank und Unesco bei bis zu 900 Milliarden Euro liegen, weil viele Kinder von heute wegen ihrer Bildungsmängel später als Erwachsene keine Chance auf gute Einkommen haben werden.

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Nach einer Kindheit im Krieg sind Minderjährige außerdem leichte Beute für Extremisten. „Für Kinder, die für einen Hungerlohn in einer Hinterhof-Fabrik schuften müssen, ist ein Sold von monatlich 400 Dollar als Kämpfer sehr verlockend“, analysiert die Denkfabrik Brookings Institution. Experten wie Justin Forsyth, ehemaliger Chef von Save the Children, sprechen daher von einer „Verlorenen Generation“, ein Begriff, der einst für die Generation des Ersten Weltkrieges geprägt wurde.

Langfristige finanzielle Hilfe könnte Abhilfe schaffen. Bisher geschehe in diesem Bereich aber zu wenig, sagt UN-Koordinator Cutts. Dabei wäre das Geld im Eigeninteresse der Geberländer gut angelegt: „Die Menschenrechtsverletzungen von heute können zu den Kriegen von morgen werden.“

Ohne Stabilität werden mehr Menschen ihre Heimat verlassen

Dass Konflikte im Nahen Osten direkte Auswirkungen auf Europa haben können, erlebte die EU im Jahr 2015 bei der Flüchtlingswelle aus Syrien. Cutts rät deshalb zum vorzeitigen Handeln. „Staaten sollten mehr denn je in Frieden und Stabilität investieren, sonst werden unweigerlich noch mehr Menschen ihr Land verlassen.“

Experte Ralf Südhoff beklagt ebenfalls, dass dringend erforderliche finanzielle Mittel fehlten. „Nicht einmal 30 Prozent der benötigten Hilfen für syrische Flüchtlinge in der Region sind dieses Jahr eingegangen“, sagt der Direktor des Berliner Centre for Humanitarian Action, einer Denkfabrik, die Stärken und Schwächen humanitärer Hilfe analysiert.

Südhoff sieht die neue Bundesregierung, die ja eine werteorientierte Außenpolitik versprochen habe, in der Pflicht, Deutschlands Engagement auszubauen. „Der Einsatz ist zwar finanziell beeindruckend, politisch und personell aber hat er nicht das nötige Fundament.“

Dramatisch unterernährt sind im Jemen viele Tausend Kinder.
Dramatisch unterernährt sind im Jemen viele Tausend Kinder.

© Mohammed Mohammed/imago/Xinhua

Deutschland zählt nach Angaben von Unicef-Sprecherin Touma zu den Ländern, die vergleichsweise viel Geld bereitstellen. Die UN hoffen, dass die neue Ampelkoalition in Berlin diese Hilfe ausbaut. Die Bundesregierung hat nach Angaben aus dem Auswärtigen Amt in diesem Jahr für Syrien und Flüchtlingsaufnahmeländer in der Region fast 700 Millionen Euro bereitgestellt. Für das kommende Jahr rechnet das Außenministerium mit einem ähnlichen Umfang.

Zusätzlich sagte das Bundesentwicklungsministerium (BMZ) nach eigenen Angaben zwischen 2012 und 2020 etwa 7,4 Milliarden Euro für Syrien und seine Nachbarländer zu; für das laufende Jahr sind es 1,07 Milliarden. Für den Jemen sind 118 Millionen Euro eingeplant.

Nouripour: Hilfsleistungen dürfen nicht missbraucht werden

Mit dem Geld soll Hunderttausenden Kindern der Schulbesuch ermöglicht werden. Tausende Lehrer und Mitarbeiter des Gesundheitswesens werden bezahlt, neue Jobs geschaffen, Schulen saniert sowie Wasser- und Sanitäranlagen repariert. „Das BMZ leistet in diesen langwierigen Konfliktsituationen somit einen Beitrag, um dem Entstehen einer ,verlorenen Generation’ entgegenzuwirken“, heißt es im Ministerium.

Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, fordert zudem eine umfassende Überwachung der Hilfe vor Ort. „Nur so lässt sich sicherstellen, dass Hilfsleistungen von bestimmten Kriegsparteien nicht für sich selbst abgezweigt werden oder verfeindeten Akteuren verweigert werden.“ Letztlich bekämpfe humanitäre Hilfe aber nur die Symptome und nicht die Ursachen, betont Nouripour.

Deshalb müssten Konflikte verhindert werden, wo immer das möglich sei. In den betroffenen Ländern müsse außerdem auf die dortigen Regierungen eingewirkt werden, um die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. „Auf diese Weise verringern wir die Gefahr einer Destabilisierung solcher Staaten“, sagt Nouripour. Dann hätte die „verlorene Generation“ vielleicht doch noch eine Chance.

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