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Auf Distanz. US-Präsident Donald Trump ist verärgert über Justin Trudeau. Kanadas Regierungschef habe sich „unehrenhaft“ verhalten.

© Leah Millis/Reuters

Transatlantische Beziehungen: „Wir wollen Freunde bleiben“

Kanadas Botschafter Stéphane Dion im Tagesspiegel-Interview über die Folgen des G-7-Gipfels, die Nähe zu Europa und Herausforderungen bei der Integration.

Herr Botschafter, US-Präsident Trump hat Ihrem Premierminister Justin Trudeau nach dem G7-Gipfel vom vergangenen Wochenende per Twitter „falsche Aussagen“ vorgeworfen, dessen Kritik an den US-Strafzöllen sei „unehrenhaft und schwach“. Und Trumps Handelsberater Peter Navarro drohte Trudeau jetzt gar mit dem Jüngsten Gericht, weil der versucht habe, „ihn in den Rücken zu stechen“. Hasst Trudeau jetzt Trump?
Hass und Wut sind nicht der Stil unseres Premierministers. Er ist sehr professionell. Er denkt daran, was gut ist für Kanadas Bürger, für Amerikaner und für die Welt. Und die Welt braucht den US-Präsidenten. Daher geht es darum, auch nach dem, was am Wochenende passiert ist, sich weiter ernsthaft mit ihm auseinanderzusetzen und zu schauen, wie wir einige dieser Streitpunkte lösen können. Wir wollen Freunde bleiben und weiter zusammenarbeiten.

Waren Trumps Beschuldigungen gerechtfertigt?
Der Premierminister antwortet niemals auf Tweets. Jetzt ist es nötig, jede Form der Eskalation zu vermeiden, sei es Eskalation in Handel oder in Worten. Trudeau hat nur gesagt, was er schon zuvor gesagt hat. Nämlich dass Kanada diese Art von Schwierigkeiten vermeiden will, die die Handelspolitik des US-Präsidenten erzeugt hat. Aber man muss eben auf die Ankündigungen aus den USA reagieren, plötzlich Zölle gegen uns zu verhängen.

Wie?
Premierminister Trudeau wird das tun, was nötig ist, um kanadischen Arbeitern und Unternehmern zu helfen. Er hat keine andere Wahl: Wenn es einen Zoll gibt, der den Interessen der Kanadier schadet, muss er reagieren. Das ist eine ganz klare Sachlage, und keine persönliche Angelegenheit. Daher gab es keinen Grund, überzureagieren. Wir hoffen, dass der gesunde Menschenverstand sich durchsetzt.

Stéphane Dion ist seit Februar 2017 Kanadas Botschafter in Deutschland. Zuvor war er unter anderem Außenminister.
Stéphane Dion ist seit Februar 2017 Kanadas Botschafter in Deutschland. Zuvor war er unter anderem Außenminister.

© Kai-Uwe Heinrich

Rücken Kanada und Europa durch die Situation in den USA enger zusammen?
Ja, wir rücken näher an Europa, das ist schon seit einige Zeit zu merken. Wir sitzen ja alle im selben Boot, was diese Herausforderungen angeht. Die US-Zölle betreffen Deutschland und Europa auf ähnliche Weise wie uns. Und uns eint auch, dass wir in klare Regeln für die Welt glauben. Wir glauben an Multilateralismus. Bei allen großen Herausforderungen der Gegenwart steht Kanada eng an der Seite von Frankreich, Deutschland und der EU. Wir sind das europäischste der nichteuropäischen Länder.

Das heißt, wir werden nach dem G7-Gipfel jetzt eine Zunahme des Handels zwischen Kanada und der EU sowie engere Beziehungen zwischen unseren Ländern erleben?
Ja, wir haben ja kürzlich auch das Freihandelsabkommen Ceta zwischen Kanada und der EU auf den Weg gebracht, das allerdings von den meisten EU-Parlamenten noch ratifiziert werden muss. Darin haben wir festgelegt, dass Regierungen nach wie vor im Interesse des Gemeinwohls steuernd eingreifen dürfen. Also um gemeinsame Werte, Arbeitnehmerrechte oder die Umwelt zu schützen. Das sollte auch unser Verhältnis mit den USA inspirieren, denn Protektionismus ist ein Fehler. Das ist vielen Populisten nicht bewusst, die sich gegen Freihandel einsetzen. Nicht jedes Freihandelsabkommen ist automatisch gut. Aber wenn es die Rechte der Menschen schützt, und dazu die der Umwelt, dann bringt es viele Vorteile.

In Deutschland wird neben diesen Fragen derzeit vor allem über die nicht immer einfache Integration vieler Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen diskutiert. Kanada hat in diesem Bereich eine lange Tradition. Ein Konfliktpunkt bei uns sind religiöse Kopfbedeckungen, in Deutschland dürfen Staatsbedienstete in vielen Positionen kein Kopftuch tragen. In Kanada trägt sogar Ihr Verteidigungsminister den traditionellen Turban der Sikhs. Sollte Deutschland in dieser Hinsicht etwas lockerer werden?
Auch wir diskutieren über Schwierigkeiten der Einwanderung. Besonders in meiner Provinz, Québec. Und ja, manchmal sind klare Regeln nötig. Aber die Sichtweise der kanadischen Regierung hierzu ist sehr liberal. Wir denken: Die Beweislast liegt bei denen, die die Freiheiten einschränken wollen. Das heißt, wenn man einer Frau verbieten will, ihr Haar zu bedecken, muss man ein gutes Argument haben, wieso sie im öffentlichen Interesse ihr Haar zeigen muss. Und wenn es keine Studien oder eindeutige Belege gibt, dass sie nicht unabhängig sein kann, nicht im öffentlichen Interesse handeln kann, dann sagen wir: Lasst sie in Ruhe und seht sie als Mensch und als Mitbürgerin, nicht als Problem. Das ist die Sichtweise in Kanada, die nicht nur von der Regierung sondern von vielen Bürgern geteilt wird.

In Deutschland meinen manche Menschen vor allem aus dem konservativen, rechten Spektrum, dass ein Kopftuch ein Zeichen ist, dass jemand religiösen Werten mehr verpflichtet sein könnte als zum Beispiel dem Grundgesetz.
Dafür gibt es keine Belege. Man kann doch solche Beschränkungen nicht auferlegen, nur weil einem etwas nicht gefällt. Und bei uns haben wir die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die professionell und fair behandelt werden, auch professionell und fair arbeiten.

In Deutschland gibt es – anders als in Kanada – viele Herausforderungen gerade bei der Integration muslimischer Einwanderer, auch in den nachwachsenden Generationen. In manchen Bereichen sind sie überproportional in den Kriminalitässtatistiken vertreten, bei den Schulabbrechern, bei der religiösen Radikalisierung. Sollte Deutschland hier mehr für die Integration tun?
In Ihrer Frage stecken viele Themen. In Kanada versuchen wir, nicht eine Bevölkerungsgruppe ins Visier zu nehmen, indem man ihr zum Beispiel zuschreibt, sie sei überproportional kriminell. Das Justizsystem basiert auf individueller Verantwortung. Wenn ein Mensch kriminell geworden ist, gucken wir uns dessen individuelle Situation an, wir sehen ihn nicht vor allem als Teil einer Gruppe. Das führt sonst dazu, dass man immer dann, wenn man jemanden aus dieser Gruppe sieht, sofort denkt, der neigt zu Kriminalität. Das vermeiden wir. Unsere Gesellschaft basiert auf Einwanderung und wird immer vielfältiger. Das muss auch so sein, denn unsere Bevölkerung - wie auch die in Deutschland und der EU – altert und benötigt den Zuzug aus anderen Ländern. Und wenn eine Gemeinschaft öfter bestimmte Probleme hat oder verursacht, muss man dort ansetzen und gucken: Was kann getan werden, um dieser Gemeinschaft zu helfen? Das ist in der Tat eine Herausforderung in manchen Gruppen. Aber bei uns sind dies ganz andere Gruppen als bei Ihnen. In Kanada haben Muslime zum Beispiel im Durchschnitt eine höhere Bildung als der Bevölkerungsdurchschnitt.

Kanada ist ja generell in einer ganz anderen Situation, was die Auswahl von Einwanderern angeht, auch aus geografischen Gründen.
Ja, wir haben eine andere Einwanderungsgeschichte. Wir konnten uns unsere Einwanderer auch besser aussuchen, viele sind schon hochgebildet zu uns gekommen. Um zu uns zu kommen, muss man entweder einen von drei Ozeanen überqueren. Oder man kommt durch ein riesiges Land im Süden, das das reichste der Welt ist. Daher haben wir eine sehr geringe Zahl unkontrollierter Einwanderung. Auch wenn das sich in letzter Zeit etwas ändert: Durch die Politik der US-Regierung gegenüber undokumentierter Einwanderung haben wir eine Zunahme an Menschen, die über die US-Grenze zu uns kommen. Aber der größte Teil der Zuwanderer nach Kanada ist nach wie vor ausgewählt. Und wir haben bestimmte Strategien entwickelt, um diese Einwanderung erfolgreich zu machen.

Zum Beispiel?
Wir kümmern uns sehr um die Einwanderer und legen großen Wert darauf, dass sie eine unserer Sprachen lernen, um gute Jobs zu bekommen. Das ist Konsens in der kanadischen Politik, unter allen großen Parteien. Und wir fördern die jeweiligen Gemeinschaften, die bei der Integration helfen. Idealerweise läuft es so: In der ersten Generation brauchen Einwanderer noch die Community ihrer Herkunftsländer. Sie finden dort Tipps, ihnen wird bei Job- und Wohnungssuche geholfen. In der zweiten Generation sollte die Bildung im Vordergrund stehen. Das bedeutet die Kinder der Einwanderer steigen letztlich auf, sind Teil der Gesellschaft. Die dritte Generation hat dann am besten schon einen Freund oder eine Freundin, einen Ehemann oder eine Ehefrau aus einer anderen Community.

In Deutschland lässt sich das nicht auf alle Einwanderergruppen übertragen. Auch in der dritten Generation scheinen manche Einwanderer nicht integriert – es gibt sogar eine verstärkte Hinwendung zu den Heimatländern der Eltern, eine Tendenz zur radikalen Abgrenzung, zum Islamismus: Was muss Deutschland anders machen?
Wenn die dritte Generation sich mehr von der Gesellschaft abwendet, wenn sie isolierter ist als die erste Generation, dann ist etwas völlig falsch gelaufen. Dann müssen Sie über die Grundlagen Ihrer Integrationspolitik nachdenken.

Hat Deutschland zu wenig getan, um diese Menschen zu integrieren – oder liegt die Bringschuld nicht eher bei den Einwanderern?
Man kann als Staat nie genug tun. Und das ist nicht immer eine Frage des Geldes, sondern der richtigen Strategien. Wenn man denkt, dass das mit der Integration alles schon von selbst passiert, dann liegt man falsch. In Kanada haben wir diese Prozesse nie als Selbstverständlichkeit genommen. Ich war 21 Jahre lang Abgeordneter in einem Wahlbezirk mit sehr vielen Einwanderern, eine Art Vereinte Nationen im Kleinformat. Und ich habe nur sehr wenige Wochenenden frei gehabt, weil ich mich immer darum gekümmert habe, den Bürgern und den Gemeinschaften zu helfen, sie zu unterstützen. Kanada ist immer schon ein Einwanderungsland gewesen, wir haben da einfach eine sehr viel längere Tradition als Deutschland.

Würde ein Einwanderungsgesetz helfen, wie es seit einiger Zeit in Deutschland diskutiert wird?
Die Große Koalition arbeitet an einem Einwanderungsgesetz, das ist aus meiner Sicht gut so. Wir sind gerne bereit, unsere Erfahrungen aus Kanada zu teilen, auch wenn wir teilweise unterschiedliche Herausforderungen haben. Aber klar ist: Die Vielfalt in Deutschland und Europa wird weiter zunehmen, es wird immer mehr Zuwanderer geben. Dafür muss es klare Regeln geben, dann können alle davon profitieren.

Ein Aspekt des kanadischen Systems ist in Deutschland sogar bei der politischen Rechten populär, nämlich das Punktsystem mit seiner strengen Auswahl von Einwanderern nach Nützlichkeitskriterien für die kanadische Wirtschaft. Ein Modell auch für Deutschland?
Wir sind mit unserem Punktesystem gut gefahren, das vor allem bestimmte Qualifikationen als Voraussetzung festlegt. Hier versuchen wir, die aktuellen Bedürfnisse unserer Gesellschaft und unserer Unternehmen zu berücksichtigen. So werden zum Beispiel hochqualifizierte Beschäftigte ebenso bevorzugt wie diejenigen, die Arbeiten machen, die Kanadier nicht mehr machen wollen. Zuwanderer nach Kanada kommen allerdings nicht nur über das Punktesystem. Sie kommen auch über Familienzusammenführungen oder als politische Asylbewerber. Aber man kann eine sinnvolle Einwanderungsstrategie nur erarbeiten, indem man sich vor Augen führt, welche Art von Gesellschaft sie in der Zukunft bringen soll.

Das Interview führten Hannes Heine und Lars von Törne

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