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Frauen und Männer in Führungspositionen.

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Top-Jobs: Kaum Posten für den Osten

Intrigen! Seilschaften! Daran liegt es, glauben viele, dass Ostdeutsche in Spitzenjobs selten vorkommen. Doch die Gründe gehen tiefer. Ein Gastbeitrag.

Es herrscht Frust im Osten. Allerdings geht es nicht mehr nur um bekannte Themen wie Flüchtlingspolitik, infrastrukturell abgehängte Dörfer oder ungleiche Löhne, sondern um Grundlegendes: um das Empfinden vieler Ostdeutscher, in der Gesamtgesellschaft nicht gleichberechtigt, mithin nicht voll anerkannt zu sein. Eine Diagnose, die wohl auch die Bundeskanzlerin teilt. Es sei für sie „nicht so verwunderlich, dass es in Ostdeutschland Frustrationen gibt“, sagte Merkel kürzlich in einem Interview. Sie benannte als einen wichtigen Grund, dass Ostdeutsche auf Führungspositionen unterrepräsentiert sind.

Dies birgt ein ernsthaftes Integrationsproblem. Für viele Menschen in den neuen Ländern ist die Gruppenidentität als Ostdeutsche, 30 Jahre nach dem Mauerfall, immer noch prägend. Unterrepräsentanz bedeutet dann, dass Vorbilder aus der eigenen Gruppe fehlen, an denen man sich orientieren kann und die allen signalisieren, dass die Gesellschaft offen ist und es jede/r bis ganz nach oben schaffen kann.

Neue Studien sind rar

Wie groß das genaue Ausmaß der Unterrepräsentanz ist, ist nicht bekannt, denn neuere Studien sind rar. Zudem variieren die Ergebnisse, je nachdem, was genau als Führungsposition definiert wird und welche gesellschaftlichen Bereiche man untersucht.

Ich betrachte im Folgenden den Anteil gebürtiger Ostdeutscher an den absoluten Top-Jobs auf dem Gebiet der neuen Länder.

Die jüngste mir hierzu bekannte Studie stammt von Kollegen der Leipziger Universität. Sie haben für die Jahre 2015 und 2016 die Bereiche Politik (Landesregierungen), Unternehmen (Vorstände), Wissenschaft (u. a. Rektoren), Medien (Chefredakteure), Justiz (Richter) und Bundeswehr (Generäle) untersucht. Heraus kam: Im Osten (ohne Berlin) betrug der Anteil Ostdeutscher nur 23 Prozent, bei etwa 87 Prozent Bevölkerungsanteil. Zudem stellt die Studie fest, dass es im Vergleich zum Jahr 2004 kaum Veränderung gab. Andere, etwas ältere Studien zeigen darüber hinaus, dass Ostdeutsche noch seltener Top-Positionen bekleiden, wenn man Gesamtdeutschland als Maßstab heranzieht.

Warum gibt es so wenig ostdeutsche Funktionseliten in den neuen Ländern? Eine naheliegende Antwort würde lauten: Diskriminierung, Seilschaft! Westdeutsche gäben Jobs an ihresgleichen weiter, um als Gruppe ihre Pfründe zu sichern. Zwar zeigt die Forschung, dass Führungskräfte (in der Wirtschaft) eher dazu neigen, Personen zu rekrutieren, die ihnen in sozialer Hinsicht ähneln. Ob das auch zutrifft, wenn die Personen Ost-Biografien haben, wissen wir nicht, es scheint aber nicht sehr plausibel zu sein. Die Forschung deutet vielmehr auf Ursachen hin, die wenig mit Diskriminierung, aber viel mit Demografie zu tun haben.

Alles begann mit der Wiedervereinigung. Weil diese als Ausdehnung des westdeutschen Institutionensystems organisiert wurde, waren in den neuen Ländern Experten gefragt, die sich mit den West-Institutionen auskennen mussten. In der Folge erlebte der Osten binnen kurzer Zeit einen enormen Austausch seiner Führungseliten – eben durch Westdeutsche. Entscheidend ist, dass viele der neuen, damals zugezogenen Eliten auch heute noch auf „dem Posten“ sind, weil sie in den frühen 1990er Jahren, bei Stellenantritt, relativ jung waren. Um den riesigen Bedarf zu decken, bekamen viele Westdeutsche, wenn sie in den Osten gingen, die Chance auf einen Karriereaufstieg, auf den sie im Westen noch viele Jahre hätten warten müssen. Man stelle sich etwa einen 38-jährigen Westdeutschen vor, der in Leipzig im Jahr 1993 Richter am Landgericht oder Universitätsprofessor wurde und später zum Gerichtspräsidenten oder Rektor befördert wurde. Wenn er seine Stelle zwischenzeitlich nicht verlassen hätte, würde er, im Alter von 65, erst 2020 aus dem Dienst ausscheiden. Bis dahin ist seine Stelle für den Nachwuchs blockiert, egal wie qualifiziert dieser auch immer ist.

Pool an Ost-Führungskräften verkleinert

Verschärfend kommt hinzu, dass nach der Wende weit über eine Million Ostdeutsche Richtung Westen gezogen sind, darunter überwiegend jüngere und gut qualifizierte. Das verkleinert den Pool an zukünftigen Ost-Führungskräften auf dem Gebiet der neuen Länder. Zwar zeigen Berechnungen des Bundesamts für Bevölkerungsforschung, dass der Auswanderungstrend 2017 gestoppt zu sein scheint. Bei den 18- bis 29-Jährigen verliert der Osten aber nach wie vor Potenzial an den Westen.

Schließlich gibt es in den neuen Ländern anteilig weniger Personen, die über eine für Spitzenpositionen notwendige Hochschulbildung verfügen. Das zeigt ein Vergleich der Akademikerquoten der Bundesländer im aktuellen nationalen Bildungsbericht. Dies gilt selbst für jene, die ihren Abschluss erst nach der Wende gemacht haben – offenbar ein spätes Erbe der niedrigen DDR-Akademikerquote und ein weiterer Grund dafür, warum es weniger Ostdeutsche in Führungspositionen gibt.

Etwas anders ist die Lage in der Landespolitik. Hier führt der Wahlmechanismus dazu, dass Spitzenpolitiker öfter ausgetauscht werden. Deshalb sind die Chancen für gebürtige Ostdeutsche größer. Laut Leipziger Studie stellten sie im Jahr 2016 70 Prozent der Ministerposten und Regierungschefs, was fast ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Aber auch bei den Staatssekretären, den zweitwichtigsten Positionen im Politikbetrieb, gibt es Veränderungen. Hier stieg der Anteil der Ostdeutschen von 20 Prozent im Jahr 2004 auf knapp die Hälfte aller Positionen in 2016 an. Vermutlich geht das auf Änderungen bei den oft wechselnden parlamentarischen Staatssekretären zurück, die von Politikern besetzt werden, und nicht auf die verbeamteten Staatssekretäre, die aus dem Berufsbeamtentum rekrutiert werden.

Integrationsprobleme weniger emotional diskutieren

Zusammengenommen scheinen der Transfer von überwiegend jüngeren westdeutschen Eliten nach 1990 und die ungünstige demografische Entwicklung im Osten wichtige strukturelle Ursachen dafür zu sein, warum es bisher nur wenige gebürtige Ostdeutsche auf Spitzenpositionen geschafft haben. Ich formuliere dieses Fazit bewusst vorsichtig. Denn die zugrunde liegenden Prozesse sind komplex. Für Betroffene sind sie zumeist unsichtbar und auch für die Forschung schwer zu identifizieren. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass hochsensible Daten benötigt werden, die oftmals gar nicht oder nur sehr aufwendig erhoben werden können.

Dennoch sollte es im Interesse des Zusammenhalts der Gesellschaft sein, dass diese Ursachen umfassend erforscht werden. Hierzu kann auch das „Institut für den gesellschaftlichen Zusammenhalt (IfgZ)“ beitragen, das derzeit gegründet und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert werden wird. Denn die sozialwissenschaftliche Forschung kann dazu beitragen, dass Integrationsprobleme in der Gesellschaft sachgerechter und nicht vorrangig emotional diskutiert werden – auch, wenn das Gefühl der Betroffenen, nicht anerkannt zu sein, verständlich ist und oft in Frust mündet. Der sachlich-nüchterne Blick der Wissenschaft auf die Macht der sozialen Strukturen hilft zumindest zu erkennen, dass ein krasser Wandel wie der Zusammenbruch einer ganzen Gesellschaftsordnung einen längeren Schatten auf die Zukunft wirft, als man es sich gemeinhin vorstellt.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Leipzig.

Holger Lengfeld

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