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Sag's mit Blumen. Susanne Hennig-Wellsow (rechts, Die Linke) hat Thomas Kemmerich (links, FDP), dem neuen Thüringer Ministerpräsident, gerade den Gratulationsstrauß vor die Füße geworfen.

© Martin Schutt / dpa

Thüringen, Höcke und Erziehungsfragen: Der Kompass im Chaos

Wie sollen Eltern ihren heranwachsenden Kindern nur das aktuelle Polittheater erklären? Eine Kolumne aus gegebenem Anlass.

Eine Kolumne von Hatice Akyün

Ich fühle mich orientierungslos. Als ich noch kein Kind hatte, empfand ich das nicht als großes Problem, ich musste ja nach einer Katastrophe nur meinen eigenen Kompass wieder neu ausrichten. Seit ich Mutter bin, fällt mir das immer schwerer.

Wie vermittelt man als Eltern, dass Politik wichtig und Politikerinnen und Politiker ehrwürdige Leute sind in Zeiten von Kemmerich, Lindner, Höcke, Weidel, Trump, Erdogan und Johnson? Wie rechtfertigt man, dass es legitim ist, dass man jenen, die unsere Demokratie gefährden, die Zusammenarbeit verwehrt und ihnen entgegentreten muss?

Das Argument „alles Lügnerinnen und Lügner“ ist nicht wirklich überzeugend, zumal es dazu führt, dass sich Kinder nicht mehr für Politik interessieren. Das einer Demokratie unwürdige Theater von Thüringen, inszeniert von Vertreterinnen und Vertretern von FDP, CDU und AfD, brachte mich als Mutter an meine aufklärerischen Grenzen. Trotzdem komme ich nicht darum herum, diese zu überwinden.

Kinder haben nämlich die Eigenschaft, einem durch einfache Fragen das eigene Wertegerüst so durchzuschütteln, dass man sehr intensiv darüber nachdenken muss, wie man ihnen Grundsätzliches, jenseits von Worthülsen, glaubhaft erklärt.

„Du sagst doch immer, dass man die Meinung von anderen Leuten respektieren muss, auch wenn es nicht die eigene ist.“ Und: „Warum reden die nicht einfach miteinander? Probleme löst man, wenn man miteinander redet, sagst du doch immer“, warf sie mir an den Kopf. Das traf mich ziemlich unvorbereitet.

Blumen im freien Fall

Nach dem Abendessen versuchte ich es mit einer Antwort. Ich zeigte ihr zwei Fotos. Auf dem einen die amerikanische Demokratin Nancy Pelosi, wie sie nach Präsident Trumps Rede das Manuskript dazu zerreißt, auf dem zweiten die Thüringer Linken-Chefin Susanne Hennig, wie sie nach der Ministerpräsidenten-Wahl FDP-Mann Kemmerich einen Blumenstrauß vor die Füße fallen lässt.

Sie wirft ihn nicht, sie schreit Kemmerich nicht wütend an, sie wirkt in diesem für sie unerträglichen Moment gefasst und souverän. Mit diesen beiden Bildern versuchte ich meiner Teenagertochter deutlich zu machen, dass dieses Verhalten in jeder anderen Situation unhöflich gewesen wäre, aber in dieser legitim, weil die Aktionen von starker Symbolkraft waren.

Wo bleibt der Anstand?

Auf dem einen ein Rassist, Sexist und Spalter, auf dem anderen einer, der sich mit Stimmen einer Partei zum Ministerpräsidenten wählen ließ, deren Vorsitzender ein Faschist ist. Pelosis Zerreißen der Rede und Hennigs Blumengeste hätten nichts mit mangelnden Manieren zu tun, sagte ich, sei seien eine Reaktion auf die Anstandslosigkeit der Gegenseite. Ob sie es verstanden hat, werde ich sicherlich bald merken. Es ist wichtig, Kindern Begriffe wie Integrität und Haltung nicht nur zu erklären, sondern auch vorzuleben. Aber vor allem muss man ihnen deutlich machen, wie wichtig es ist, Überzeugungen nicht nur zu haben, sondern sie auch zu zeigen. Erwachsene sagen oft das Gleiche, meinen aber nicht unbedingt dasselbe.

Kinder bringen einem die verloren gegangene Haltung in den Alltag zurück. Deshalb sollten wir uns nicht davor scheuen, ihre Fragen mit mehr Tiefe zu beantworten. Das bedeutet aber auch, ehrlich mit sich selbst zu sein. Denn oft profitieren wir selbst von der Skrupellosigkeit der Politikerinnen und Politiker. Nur wenn man selbst einen moralischen Kompass besitzt, kann man Haltung auch an seine Kinder weitergeben.

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