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Terror-Attacke in Frankreich: Die Bedrohung gegen Juden nimmt zu

Die zunehmende Bedrohung durch Antisemitismus: Was lösen die Anschläge von Paris bei Juden in Frankreich und Deutschland aus? Fragen und Antworten..

Vier Tage nach der Terror-Attacke auf einen koscheren Lebensmittelmarkt in Paris wurden die vier jüdischen Opfer am Dienstag auf einem Friedhof in Jerusalem beigesetzt. An der Trauerfeier nahmen auch Israels Staatspräsident Reuven Rivlin, Premier Benjamin Netanjahu und die französische Umweltministerin Ségolène Royal teil. Joav Hattab, Johan Cohen, Philippe Braham und François-Michel Saada waren bei der Geiselnahme erschossen worden. Sie waren keine Israelis, doch ihre Angehörigen hatten sich eine Bestattung in Jerusalem gewünscht.

Wie reagieren Frankreichs Juden auf die Anschläge von Paris?

Viele Juden fühlen ein großes Unbehagen und haben Angst. Immer mehr fragen sich deshalb, ob sie auswandern sollten. Auch die Großdemonstrationen gegen Hass und Rassismus haben daran wenig geändert. Schon lange gibt es den Vorwurf an die französischen Politiker, Judenfeindschaft werde trotz aller dramatischen Vorfälle „banalisiert“. „Wir leben wie Paria“, klagt Roger Cukierman, Chef des Dachverbandes jüdischer Organisationen in Frankreich, und spricht am Sonntag sogar von „Kriegszustand“.

Hätte die französische Politik in der Vergangenheit rascher und entschiedener gegen den Antisemitismus vorgehen müssen?

Nach jedem judenfeindlichen Vorfall in den vergangenen Jahren waren die Politiker sofort zur Stelle, um die Anschläge zu verurteilen. Und stets beteuerten sie, man werde entschieden gegen Antisemitismus vorgehen. Das sei eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft. Doch die Zahl antisemitischer Anschläge ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. In den ersten neun Monaten des Jahres 2014 hat das Innenministerium 527 Übergriffe registriert, eine Steigerung von gut 90 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Immer wieder hatten die Politiker auch bekundet, die jüdischen Institutionen besser schützen zu wollen. Doch erst nach den Anschlägen der vergangenen Woche wurde der Polizeischutz deutlich erhöht. Jetzt bewachen 5000 Polizisten die 717 jüdischen Einrichtungen und Schulen.

Was kennzeichnet den dortigen Antisemitismus, welche Dimension hat er?

Besonders beunruhigend ist der steigende Antisemitismus in der arabischmuslimischen Gemeinschaft. Er wird befeuert auch durch den Nahostkonflikt. Aus der Ablehnung der israelischen Politik werden Ressentiments gegenüber „den Juden“ konstruiert; auch krude Verschwörungstheorien über „die Zionisten“ kursieren. Diese relativ neue Form des Antisemitismus gibt es auch in Deutschland. Doch in Frankreich leben prozentual mehr Muslime als in Deutschland, was mit der kolonialen Vergangenheit zu tun hat. Auch bringen die muslimischen Einwandererfamilien in Frankreich und Deutschland unterschiedliche Prägungen mit. Die Mehrheit der muslimischen Einwanderer in Frankreich kommt aus dem Maghreb. Viele in Deutschland lebenden Muslime haben türkische Wurzeln und sind eher an den Laizismus gewöhnt, den es auch in der Türkei gibt. Viele französische Juden treibt zudem um, dass der rechtsextreme „Front National“ bei den Wahlen in jüngster Zeit Erfolge feiern konnte. Diese Partei ist ein Sammelbecken für Antisemiten.

Sowohl die Zahl wie auch die Brutalität der antisemitischen Angriffe nehmen zu

Nicht nur die Anzahl antisemitischer Überfälle hat zugenommen, sondern auch die Brutalität der Attacken. So tötete im März 2012 der Islamist Mohammed Merah drei Kinder und einen Lehrer in einer jüdischen Schule in Toulouse. Auch der Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel im Mai 2014 hat die französischen Juden erschüttert. Der Täter war Franzose. Bei einem Raubüberfall auf ein junges Paar in Créteil im Dezember, bei dem die junge Frau vergewaltigt wurde, suchten sich die Einbrecher gezielt Juden aus, da diese angeblich viel Geld haben. Und die jüdische Gemeinschaft erinnert sich schaudernd an den Tod des jungen Ilan Halimi im Jahr 2006. Der französische Jude war entführt und wochenlang in einer Wohnung gefoltert worden, während die Geiselnehmer hohes Lösegeld von seinen Eltern forderten. Die Täter hatten ihn bewusst ausgewählt, da sie davon ausgingen, Juden seien reich. Sein geschändeter Körper wurde neben eine Bahnlinie geworfen. Auch die nahezu alltäglichen Belästigungen, antijüdischen Schmierereien an Hauswänden, Beleidigungen und Prügelattacken muslimischer Schüler auf jüdische Klassenkameraden, haben das Gefühl der Unsicherheit erhöht. Um in der Öffentlichkeit nicht aufzufallen, verdecken jüdische Männer ihre Kippa häufig unter einer Schirmmütze, wenn sie am Schabbat aus dem Haus gehen.

Wird es eine Auswanderungswelle geben?

Die gibt es bereits. 2014 haben etwa 7000 der 600 000 Juden in Frankreich das Land verlassen. Das war eine Steigerung von mehr als 100 Prozent im Vergleich zu 2013. Beim Verwaltungsrat der jüdischen Gemeinden in Paris soll seit Montag ohne Unterlass das Telefon klingeln, weil sich so viele Menschen nach den Formalitäten für eine mögliche Auswanderung nach Israel erkundigten. Dort könne man als Jude leben, ohne sich bedroht zu fühlen – so laute der Tenor der Begründung. In Jerusalem rechnen die Behörden damit, dass sich 2015 bis zu 10 000 französische Juden für die Auswanderung entscheiden könnten. Käme es so, wäre es nach den Worten des Präsidenten des Jüdischen Weltkongresse, Ronald S. Lauder, für Frankreich ein „Armutszeugnis“. Kein Wunder, dass die Politik zumindest mit Worten gegenzusteuern versucht. Premierminister Manuel Valls beteuerte in einer außerplanmäßigen Sitzung der Nationalversammlung am Dienstag erneut: „Juden müssen in Frankreich sicher leben können.“

Wie geht Israel mit den Angriffen um?

„So wollten wir euch nicht in Israel empfangen“, sagte der israelische Präsident Reuven Rivlin auf der Beerdigung der vier Franzosen, die am Freitag bei dem Attentat auf den koscheren Supermarkt ermordet wurden. „Wir wollten euch lebend. Ich stehe vor euch mit einem gebrochenen Herzen, zitternd und voll Schmerz. Eine ganze Nation weint mit mir.“ Mehr als 2000 Menschen sind am Dienstag zu der Beisetzung auf dem Friedhof Har Hamenuhot in Jerusalem gekommen. Viele Israelis sehen die Anschläge als Beweis dafür, dass der Islamismus nicht nur Israel, sondern auch die westliche Welt und damit Europa bedroht. Es seien nicht nur Feinde des jüdischen Volkes, sondern die Feinde der gesamten Menschheit, so zitiert die israelische Tageszeitung „Haaretz“ den Regierungschef. „Es ist an der Zeit für alle zivilisierten Menschen, sich zu vereinen und die Feinde aus unserer Mitte auszumerzen.“

Netanjahu sieht Israel als einzig sicheren Hafen für Juden aus aller Welt. Das sahen auch viele seiner Vorgänger so. Auch in den 50er und 60er Jahren mussten sich Juden rechtfertigen, wenn sie sich für ein Leben in Deutschland oder Frankreich entschieden. Auch nach dem Massaker in der jüdischen Schule in Toulouse 2012 rief Netanjahu die französischen Juden auf, in Israel Schutz zu suchen – was die Beziehungen zwischen den Regierungen in Paris und Jerusalem belastete. „Der Platz der Juden Frankreichs ist in Frankreich“, hatte François Hollande, damals noch nicht Präsident, dagegengesetzt.

Welche Schlussfolgerungen ziehen die jüdischen Gemeinden in Deutschland aus den Attentaten in Frankreich?

Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, berichtet im Gespräch mit dem Tagesspiegel, viele Juden machten sich Sorgen um ihre Sicherheit. „Die Menschen haben Angst um ihre Familien und Kinder. Sie fürchten sich vor dem islamistischen Terrorismus – in Deutschland und anderen europäischen Ländern“, sagte die ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden am Dienstag. Deshalb habe sie auch die Sicherheitsbehörden gebeten, die Schutzmaßnahmen zu verstärken. Im Kampf gegen den militanten Islamismus plädiert Knobloch entschieden dafür, auch in Deutschland die Vorratsdatenspeicherung einzuführen. „Das wäre ein wichtiges Instrument, um gegen den Terror vorzugehen.“ Repräsentanten der jüdischen Gemeinde in Berlin appellierten an die Berliner Juden, angesichts des Terrors in Frankreich keine übereilten Entscheidungen zu treffen. Auch in Berlin erwägen immer mehr Juden die Auswanderung.

Wie ist das Verhältnis zwischen Juden und Muslimen hierzulande?

Seit einigen Jahren bemühen sich der Zentralrat der Juden und der Zentralrat der Muslime um eine Annäherung, auch aus der Einsicht heraus, dass Übergriffe auf eine religiöse Minderheit auch allen anderen Minderheiten schaden. So verurteilen die Zentralräte regelmäßig Anschläge, auch wenn Gläubige der jeweils anderen Religion betroffen waren. Gemeinsam ging man 2012 gegen ein drohendes Beschneidungsverbot vor. Doch die Annäherung bleibt schwierig, besonders seitdem im Sommer muslimische Jugendliche aus Anlass des Gazakrieges antisemitische Parolen auf deutschen Straßen brüllten. Viele Muslime sehen im Zentralrat der Juden ein Sprachrohr Israels. Der wiederum wirft den Moscheegemeinden vor, nicht genügend gegen Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen zu tun.

Mitarbeit: Lissy Kaufmann

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