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Am 19. Dezember 2016 tötete der Tunesier Anis Amri zwölf Menschen, Dutzende verletzte er schwer.

© Ralf Hirschberger/dpa-Zentralbild/dpa

Terror am Breitscheidplatz in Berlin: Der Fall Anis Amri – eine Bestandsaufnahme

Zwei Jahre ist der verheerende Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz her. Klar ist: Anis Amri war kein Eigenbrötler. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

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Er war ein gewaltbereiter Gefährder und den Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern lange vor dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 bekannt. Doch der Tunesier Anis Amri ermordete zwölf Menschen und verletzte mehr als 60 Menschen zum Teil sehr schwer. Die Untersuchungsausschüsse in NRW, im Berliner Abgeordnetenhaus und im Bundestag ermitteln Behördenfehler und hinterfragen die Rolle der Sicherheitsbehörden. Mit ihrer Arbeit sind sie noch lange nicht fertig.

War Amri ein Einzeltäter?

Anfangs hielt man Amri tatsächlich für einen Eigenbrötler, der niemanden in seine Anschlagspläne einweihte und auch keine Helfer hatte. Doch diese These – das zeigt sich immer mehr – lässt sich nicht halten.

Zum einen wurde Amri offenbar per Chatprogramm von einem Mann in Libyen angeleitet. Meher D, der sich „moumou1“ nannte, wird mittlerweile per internationalem Haftbefehl gesucht. Der Dschihadist soll mit Amri bis kurz vor dem Anschlag kommuniziert haben, wie die „Welt“ offenlegte.

Wie der Tagesspiegel in dieser Woche berichtete, plante Amri nach Erkenntnissen von Ermittlern im Spätsommer 2016 auch einen Sprengstoffanschlag mit hochexplosivem TATP – und zwar gemeinsam mit zwei Komplizen, einem Tschetschenen und einem Franzosen. Daraus wurde nichts, weil der Franzose aus Angst vor Entdeckung untertauchte. Doch der Vorgang zeigt, dass Amri zumindest bei diesem Plan bereit war, mit anderen zusammenzuarbeiten.

Außerdem war Amri Teil einer Islamisten-Clique in Berlin. Er ging regelmäßig in der Fussilet-Moschee in Moabit ein und aus, war dort bestens vernetzt. Auch kurz vor dem Anschlag war Amri dort – ebenso wie ein mehrfach vorbestrafter Gefährder namens Feysal H. Nach Recherchen von rbb und „Berliner Morgenpost“ hat eine vom LKA Berlin geführte V-Person berichtet, dass Feysal H. von Amris Attentatsplänen wusste. Davon soll das LKA aber erst nach dem Terroranschlag am 19. Dezember 2016 erfahren haben.

Dann gab es da noch Amris Freund Bilel Ben A. Mit ihm saß Amri am Vorabend des Anschlags zusammen. Es gibt Hinweise darauf, dass A. an der Tat beteiligt gewesen sein könnte. So kundschaftete A. lange vor dem Anschlag den Breitscheidplatz aus, machte dort Fotos mit seinem Handy. Die Bundesanwaltschaft hatte sogar den Verdacht, A. sei am Tatabend vielleicht ebenfalls am Tatort gewesen – belegen ließ sich das nicht. Und eine Befragung von A. ist nicht mehr möglich, er wurde kurz nach dem Anschlag abgeschoben.

Welche Rolle spielte der Verfassungsschutz?

Die Opposition im Untersuchungsausschuss des Bundestages konzentriert sich derzeit darauf, die Rolle des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) herauszuarbeiten. Die Abgeordneten sind sich sicher, dass Amri kein reiner Polizeifall war – und der Verfassungsschutz eine größere Rolle spielte, als er bislang zugab. Ex-BfV-Chef Hans-Georg Maaßen hatte stets betont, seine Behörde habe mit dem Versagen im Fall Amri nichts zu tun.

Klar ist mittlerweile: Das BfV führte einen V- Mann in der Berliner Fussilet-Moschee, der als sehr gute Quelle galt. Das BfV und die Bundesregierung betonten zwar stets, es habe keine V-Person „im Umfeld“ von Amri gegeben. Die Formulierung bedeutet aber offenbar nach BfV-Logik nur, dass es keinen V-Mann des BfV gab, der direkt auf Amri angesetzt war. Grüne, Linke und FDP klagen jetzt gegen die Bundesregierung, damit diese den für den V-Mann zuständigen V-Mann-Führer des BfV benennt. Er soll im Ausschuss vernommen werden.

Das BfV wertete auch Fotos von Amris Handy aus, das im Februar 2016 bei einer Kontrolle am Zentralen Omnibusbahnhof von der Berliner Polizei beschlagnahmt worden war. Einige dieser Bilder legte das BfV „geeignet erscheinenden“ Quellen vor, um zu überprüfen, was diese über ihn wissen. Nach Aussage eines BfV-Zeugen im Untersuchungsausschuss gab es außerdem den Auftrag an Quellen, näher an Amri heranzurücken. Auch die Quelle aus der Fussilet-Moschee bekam Lichtbilder vorgelegt – vor dem Anschlag insgesamt vier Mal. Es ist schwer vorstellbar, dass der Spitzel Amri nicht kannte, aber dem Verfassungsschutz erzählte er nichts davon.

Welche weiteren Quellen gab es in Amris Nähe?

Das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen führte eine Vertrauensperson namens „VP-01“. Diese war im Umfeld des islamistischen Predigers Abu Walaa aus Hildesheim aktiv. Dieser mutmaßliche Statthalter des IS in Deutschland steht mittlerweile in Celle vor Gericht. Seinerzeit besuchte Amri Abu Walaa mehrfach und lernte so offenbar „VP-01“ kennen. Zeitweise hatten die beiden engen Kontakt, der V-Mann chauffierte den Tunesier quer durch Deutschland. „VP-01“ gegenüber soll Amri behauptet haben, er könne problemlos eine Kalaschnikow in Italien besorgen. Bei Vernehmungen zeichnete „VP-01“ von Amri das Bild eines Radikalen.

Das LKA in Berlin hatte ebenfalls V-Leute in Amris Nähe. Der Berliner LKA-Chef Christian Steiof berichtete im Untersuchungsausschuss im Abgeordnetenhaus in nichtöffentlicher Sitzung, dass das LKA Berlin drei V-Personen geführt habe, die zu dem späteren Attentäter Kontakt hatten. Zwei waren auf Personen im Drogenmilieu, einer auf Mitglieder der Dschihadistenszene angesetzt. Erst nach dem Anschlag soll das LKA von den V-Leuten erfahren haben, dass sie Amri kannten.

Nach Informationen der „Zeit“ versuchte das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz auch einen von Amris besten Freunden als Quelle anzuzapfen – einen jungen Mann namens Soufiane A.

Welche Fehler machte die Berliner Polizei?

Der Bericht der internen polizeilichen Taskforce „Lupe“ war deutlich: 254 Mängel, darunter 32 schwere Fehler, gab es bei der Berliner Polizei. Gravierende Fehler machten die Beamten etwa bei der Observation und der Telefonüberwachung (TKÜ) von Amri. Die Dokumentation der TKÜ war lückenhaft, die Observationen fanden nur tagsüber statt. Und dass die Observation von Amri Mitte Juni 2016 eingestellt wurde, obwohl es einen staatsanwaltschaftlichen Beschluss gab, Amri bis zum 21. Oktober weiter zu observieren, wurde im Untersuchungsausschuss deutlich herausgearbeitet. Hätten die Beamten weiter observiert, hätten sie ihn wahrscheinlich wegen belegbarer Straftaten verhaften können.

Amri war im Juli 2016 auch in eine gewalttätige Auseinandersetzung in einer Shisha-Bar involviert. Es ging um Drogengeschäfte und Revierstreitigkeiten. Die Rolle von Amri wurde nie abschließend geklärt. War er Angreifer, hatte er das Messer gezückt? Zumindest sagte das eine Zeuge aus. Hätte man damals die Ermittlungen genauer geführt, wäre womöglich ein Haftbefehl für Amri fällig gewesen.

Schneise der Verwüstung. Der Tatort am 19. Dezember 2016.
Schneise der Verwüstung. Der Tatort am 19. Dezember 2016.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Das LKA führte auch keine Gefährderakte von Amri. Diese wurde erst nach dem Anschlag am 19. Dezember angelegt. Während der Observation registrierten Berliner Beamte nämlich, dass Amri im Drogenhandel aktiv war. Und so geriet er als Gefährder aus dem Fokus. Eine folgenschwere Fehlentscheidung. Das LKA NRW dagegen hielt Amri für sehr gefährlich und hatte mehrfach angemahnt, dass Berlin Beamte zu den regelmäßigen „Infoboards“ im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) von Bund und Ländern schicken sollte. Dort wurde Amri weiterhin mit der Stufe fünf von acht als Gefährder eingestuft. War der Austausch dort nicht verbindlich genug?

Fehler wurden aber auch schon in Nordrhein- Westfalen gemacht, bevor Amri im Februar 2016 nach Berlin kam. Amri war den Behörden dort als Top-Gefährder bekannt, sein Name wurde auf jeder monatlichen Sitzung der NRW-Sicherheitskonferenz genannt. In NRW wurde Amri auf einer Skala von eins bis acht mit sieben als Gefährder eingestuft. Man hätte versuchen können, Amri in Abschiebehaft zu nehmen, da er sich mit Alias-Namen bei mehreren Behörden angemeldet und Asylanträge gestellt hatte.

Obwohl das tunesische Generalkonsulat Amri nicht als tunesischen Staatsbürger identifizieren konnte oder wollte, lagen die Informationen sehr wohl vor: In einem BKA-Vermerk, der dem Tagesspiegel vorliegt, bestätigte ein leitender Beamter der tunesischen Kriminalpolizei einem BKA-Verbindungsbeamten, dass Amri 1992 in Tunesien geboren und auf ihn 2009 eine Identifikationskarte ausgestellt wurde. Trotzdem entschieden die NRW-Behörden, Amri nicht in Abschiebehaft zu nehmen. Und beim Berliner Lageso wurde der spätere Attentäter sogar unter drei verschiedenen Namen erfasst.

Welche offenen Fragen gibt es?

Eine wichtige Frage betrifft den Verfassungsschutz und den marokkanischen Geheimdienst. Die Marokkaner hatten den Deutschen viele Informationen über Amri geliefert. So wird Amri in einem Schreiben aus Rabat im September 2016 als Cyberislamist bezeichnet, der Anhänger des IS sei und ein „Projekt ausführe“. Wenig später warnt der marokkanische Geheimdienst, Amri sei in Kontakt mit Bewerbern für den Dschihad. Im November 2016 beschließen die Behördenvertreter im GTAZ, dass das BfV den Hinweisen aus Marokko noch einmal nachgehen soll. Doch das passiert nicht. Warum? Im Untersuchungsausschuss im Bundestag ist das eine der Fragen, die die Abgeordneten demnächst zu klären hoffen.

Sie wollen auch wissen: Warum wurde Amris Freund Bilel Ben A. so bald nach dem Anschlag abgeschoben? Was wissen die italienischen Behörden über Amri, das in den deutschen Akten nicht zu finden ist? Was ergab eigentlich die Auswertung der Handydaten von Amri, die die Polizei am Berliner Omnibusbahnhof sicherstellte?

Was wussten die Verfassungsschützer über den Salafisten-Treffpunkt Fussilet-Moschee, die Amri regelmäßig besuchte?
Was wussten die Verfassungsschützer über den Salafisten-Treffpunkt Fussilet-Moschee, die Amri regelmäßig besuchte?

© Paul Zinken/dpa

Offen ist auch: Was passierte genau am Tag des Anschlags? Weder die Leitstellen noch der Polizeiführer hatten eine Sofortfahndung in Berlin nach dem Täter ausgelöst, heißt es in einem Abschlussbericht. Erst drei Stunden nach dem Attentat begann eine Überprüfung bekannter Gefährder in Berlin. Und weitere zwei Stunden später erst wurde eine bundesweite Überprüfung aller Gefährder veranlasst.

Und was alles wussten der Verfassungsschutz in Berlin und auf Bundesebene über den Salafistentreffpunkt Fussilet-Moschee, die Amri regelmäßig besuchte? Auch nicht ausreichend geklärt ist die Rolle des Bundeskriminalamtes und sein Umgang mit Gefährdern. Hätte das BKA die Zuständigkeit nicht an sich ziehen können? Und warum hatten sich die Bundesbehörden allzu schnell darauf festgelegt, dass Amri ein Einzeltäter gewesen sein soll? Die Liste der Fragen ließe sich noch lange fortsetzen. Die Aufklärung in den Ausschüssen wird weitergehen. Und auch der Generalbundesanwalt ermittelt immer noch im Fall Amri.

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