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Bei der Arbeit: Die Exil-Journalisten beim Netzwerktreffen im Newsroom vom Tagesspiegel-Verlagsgebäude in Berlin-Kreuzberg.

© Thilo Rückeis

Tagesspiegel-Projekt #jetztschreibenwir: Gegen Vorurteile anschreiben

Die meisten Flüchtlinge sind wie wir: weder Radikale noch Helden. Jetzt lässt der Tagesspiegel jene zu Wort kommen, über die berichtet und geurteilt wird. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Arno Makowsky

Hinter uns liegt eine dramatische Woche. Eine, die den Blick verändern kann, unseren Blick auf die Geflüchteten. Da gibt es ganz offensichtlich Anti-Terror-Helden unter ihnen. Welch ein Widerspruch zu AfD und anderen, die in jedem Flüchtlingsheim potenzielle Bombenbastler am Werk wähnen. Nun feiern alle die drei Syrer aus Leipzig, die den Terrorverdächtigen Jaber Albakr festhielten und der Polizei übergaben; den Mann, der sich im Gefängnis mittlerweile das Leben genommen hat.

Ungeachtet der Ungereimtheiten dieses Falles fragen sich jetzt viele: Sind Syrer womöglich die aufmerksamsten Terrorgegner? Scannen viele von ihnen mit wachen Augen ständig ihre Umgebung und ihre Netzwerke nach Verdächtigen? Man hätte so etwas wissen können. Es hat aber kaum jemand danach gefragt.

Voneinander lernen

Genauso wenig wie die Öffentlichkeit etwas über die Situation von geflüchteten Frauen erfahren möchte oder darüber, wie sich Flüchtlinge eigentlich über Politik informieren. Was denken, fühlen, fürchten sie? Was erwarten sie von dem Land, in das sie nach einer oft lebensgefährlichen Reise gekommen sind? Tausende von Artikeln wurden seit dem Sommer vergangenen Jahres, seit dem Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise in allen Medien veröffentlicht.

Aber wie viele davon haben die Geflüchteten selbst geschrieben?

Sie mussten sich daran gewöhnen, dass über sie geredet, berichtet, geurteilt wird. Sie selbst kamen kaum zu Wort. Das ist hier und heute anders. Auf den meisten Seiten dieser Ausgabe lesen sie Reportagen, Berichte und Kommentare, die von geflüchteten Journalisten aus Syrien, Afghanistan, dem Iran und anderen Ländern geschrieben wurden. Die Tagesspiegel-Redaktion hat eng mit den Kollegen für dieses Projekt zusammengearbeitet; in Workshops wurden Themen bestimmt, Fotos betextet, Seiten gebaut – und viel über Politik diskutiert. Wir haben dabei mehr über die Situation der Flüchtlinge gelernt als aus vielen klugen Artikeln.

Zum Beispiel, wie ein junger Syrer den Begriff der Meinungsfreiheit entdeckt und für sich interpretiert. Was ist erlaubt in unserem Land, wo liegen die Grenzen? Der junge Mann, aufgewachsen in einem autoritären System, ist sich unsicher – und er reflektiert eine Frage, über die sich die meisten Deutschen kaum je Gedanken machen.

Ihre Sicht der Dinge

Es liegt nahe, dass Medienschaffende, die sich der vorgeschriebenen Meinung in ihren Heimatländern verweigerten, einer deutschen Öffentlichkeit ihre Sicht der Dinge schildern möchten. Viele Exil- Journalisten versuchen derzeit, in den Medien Fuß zu fassen, lernen Deutsch, brennen geradezu darauf, sich neue Techniken anzueignen. Es ist wichtig für die Publizistik in Deutschland, das als Chance zu sehen. Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen mit der letzten Einwanderungswelle in den 60er und 70er Jahren. Damals gelang es den „Gastarbeitern“ kaum, Zugang zur Medienwelt zu finden. Mit den bekannten Folgen: Entfremdung und Isolierung.

Die meisten unter den Geflüchteten, es waren 890.000 im vergangenen Jahr, sind wie wir: weder Radikale noch Helden. Keine besseren Menschen – aber auch keine schlechteren. Wenn wir sie verstehen wollen, jenseits von Klischees und Vorurteilen, müssen wir ihnen zuhören.

Und sie lesen.

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