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Zeitungsgründer. Der Journalist, Publizist, Schriftsteller, Mitherausgeber und Chefredakteur des Berliner Tagesspiegel, Erik Reger (1893-1954).

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Tagesspiegel-Leitartikel Silvester 1946: Die besten Jahre unseres Lebens

Nationaler Lorbeer schon wieder billig wie Brennesseln: Tagesspiegel-Gründer Erik Reger zog 1946 kritische Jahresbilanz in seinem Leitartikel zu Silvester.

Der amerikanische Film, der diesen Titel hat, meint es psychologisch. Er zeigt, wie schwer der "Weg zurück" ist - für den Leutnant, der nun wieder in dem Erfrischungslokal arbeiten soll, in dem er früher gearbeitet hat, für den Mechaniker, der zum Krüppel geschossen ist und sich neu bewegen lernen muß, für den Darlehensmakler, der nicht helfen kann, obwohl er soviel Elend in der Weit gesehen hat. Die Konflikte, die der Film braucht, um sich zu entwickeln, kommen weniger aus äußeren als aus inneren Zuständen, nämlich aus der seelischen Problematik, die nach dem ersten Weltkriege auch in Deutschland zu künstlerischer Darstellung anregte. Nach dem zweiten Weltkriege existiert sie in der durch Wiedereingliederung des Soldaten in ein normales, ziviles Leben bedingten Form für Deutschland kaum. Denn es gibt gar kein normales, ziviles Leben, in das der Soldat zurückkehren könnte, es gibt weder Haus und Herd, noch Handel und Wandel, noch irgendeine dieser so anheimelnden Verbindungen von Hauptwörtern, die ebensoviel an Gemütswert wie an praktischem Wert enthalten. Es gibt nur noch Andeutungen von alledem, Fragmente, die das Dasein überhaupt zum Problem und den Menschen einer Ameise vollkommen ähnlich machen, mit der einzigen Ausnahme, daß dieses von der moralisierenden Fabel so liebevoll behandelte Insekt noch imstande ist, Vorräte zu sammeln, ohne zwischen den Mühlsteinen einer üppigen Zwangswirtschaftsbürokratie und eines nur an strafrechtlichen Variationen reichen Tauschmarktes zerrieben zu werden.

Karl Anders hat dieser Tage im Londoner Radio eine fast Dickenssche Geschichte erzählt. Am Weihnachtsabend hörte er auf dem ausgestorbenen Kurfürstendamm einen klappernden Schritt durch die Dunkelheit. Er wartete an einer beleuchteten Straßenkreuzung: "Langsam tauchte ein Mann In feldgrauer Uniform auf, dessen Holzbein, ein langer, dünner Stumpf, hart auf das Pflaster stampfte. Ein Sack hing auf seiner Schulter, ein Kochgeschirr am KoppeL Er mochte vierzig oder fünfzig Jahre alt sein. Ich sprach ihn an und fragte, woher er komme. Aus russischer Kriegsgefangenschaft, sagte er, nicht zum Reden aufgelegt, aber auch nicht einsilbig. Gestern sei er angekommen und habe versucht, seine Familie zu finden. Aber das Haus sei weg, keiner wisse, was aus seiner Frau geworden sei. Er sagte das alles in einem Tone, als sei es eine alte Geschichte, die keinen Menschen interessieren könne und ihn persönlich auch nichts angehe. Nur als ich wissen wollte, wo er denn heute nacht schlafen werde, sagte er: im Bahnhof Zoo - und mit plötzlicher Bitterkeit: er habe sich das Nachhausekommen anders vorgestellt. Wir gingen noch ein Stück zusammen den Kurfürstendamm hinunter. Ich hielt die ganze Zeit ein Päckchen Tabak in der Hand und wartete auf einen günstigen Augenblick, um es ihm heimlich in die Rocktasche zu stecken. Ein erbärmliches Päckchen Tabak, achtundzwanzig Gramm. Ich war besorgt, wie der Mann mit dem Holzbein darauf reagieren würde, Ich hatte Angst vor dem Ausbruch seiner Gefühle. Schließlich, kurz vor dem Bahnhof Zoo, gab ich ihm das Päckchen mit einigen Worten der Entschuldigung. Vom Weihnachtsmann übriggeblieben! sagte ich mit einem Versuch zu scherzen. Der Ausbruch der Gefühle kam - allerdings anders, als ich erwartet hatte. Der Sack flog auf die Erde, meine beiden Hände wurden geschüttelt, und als sei eine Sektflasche geöffnet worden, sprudelten die Worte heraus: Mensch, Tabak! Wie lange habe ich schon keinen Tabak gesehen! Und ausgerechnet von Ihnen! Mensch, das muß ja gut gehen! Mensch, das gibt mir neuen Mut! Es dauerte eine geraume Zeit, bis der Sack wieder geschultert wurde und das Holzbein weiterstampfte," Eine Weihnachtsgeschichte, aber sie hat, wenn man so sagen darf, eine Silvestermoral, Das Fazit, das sich daraus ziehen läßt, paßt zur Jahreswende. Karl Anders sagt: "Die überwältigende Freude des Holzbeinigen kam wohl daher, daß ihm ein Mann mit .einer anderen Uniform, den er gestern noch als seinen Feind ansah, Sympathie und Mitgefühl bezeigt hatte." Und "Wir' werden noch genug Gelegenheit haben festzustellen, daß die andere Uniform nicht immer Feind, die gleiche nicht unbedingt Freund bedeutet. Eine Welt, in der es unmoralisch geworden ist, sich satt zu essen, wenigstens solange, bis kein Mensch mehr hungert, jeder ein Dach über dem Kopfe hat und die Flüchtlinge eine neue Heimat finden, eine Welt, in der man wiederum soviel Freude hervorrufen kann, wenn man ein Päckchen mit Tabak verschenkt, und die doch in so vielen Konferenzen ihren Frieden machen muß - eine solche Welt ist eben wirklich aus den Fugen gegangen. Von hier aus gewinnt der amerikanische Filmtitel eine sehr realistische, nüchterne und aller psychologischen Momente bare Bedeutung: die Menschen sind der besten Jahre ihres Lebens beraubt, und entgegen allem natürlichen Gesetz, das sie wünschen lassen müßte, die rasch enteilende Zeit festzuhalten, sind sie froh über jedes Jahr, das dahinschwindet.

Aber auch die Bitterkeit der Zeit vermag den Grundgedanken nicht zu zerstören, der die Menschen seit eh und je am letzten Tage des Jahres, bewegt. An diesem Tage sind wir alle wie Auswanderer; wir verlassen ein Land, das uns bis in die letzten Winkel umschatteter Leidenstäler bekannt ist, und betreten ein neues, das, leer und ungewiß vor uns liegend, allein mit den Gestalten unserer Hoffnung bevölkert erscheint. Es ist tröstlich, daß die Natur des Menschen sich in dieser Beziehung nicht wandelt-, tröstlich zu wissen, daß die Menschen vor hundert und dreihundert Jahren in dieser Stunde nicht anders empfunden haben als wir. Ewig haben sie den Vergleich vom alten und neuen Lande gebraucht, sooft auch ihre Erwartungen, nun endlich in das gelobte zu gelangen, getrogen haben; ewig haben sie das alte Jahr als einen Greis abgebildet, in dessen vielerlei Runzeln jede ihr zugehöriges Ereignis und ihre zugehörige Erfahrung hat, ewig auch das neue Jahr als ein frischgeborenes Kind, dessen glattes, rundes Gesicht nur vom Schrei des Erwachens belebt ist; und ewig haben sie vergessen, von den Erkenntnisfurchen des Greises etwas mehr als die bloße Erinnerung mit hinüberzunehmen über die Gebirgsscheide der zwölften Stunde. Vielleicht hat uns die furchtbarste aller Menschheitsepochen weiser gemacht; vielleicht hat sie uns darüber belehrt, daß es auf dieser Erde weder Anfang noch Ende gibt und die Sonne, die am Neujahrsmorgen groß, rot und berückend emporsteigt, dieselbe ist, die am Silvesterabend grämlich hinter Schleiern versank. Wichtiger als alle Jahreswenden ist die Wende der Zeiten, deren Termin erst dem Historiker bewußt wird. Wie weit wir Ihr jetzt näher sind als vor dreihundertfünfundsechzig Tagen - wer vermöchte das zu sagen? Unser allgemeines Befinden hat sich sicherlich nicht gebessert, und doch ist in den letzten zwölf Monaten sehr viel geschehen, was für die Zukunft ein nur zu ahnendes Gewicht hat. Mit Recht hat Professor von Salis in einer seiner letzten Wochenchroniken über Radio Beromünster gesagt, daß die Wiederinstandsetzung des europäischen Eisenbahnnetzes, die Wiederherstellung tausender zerstörter Brücken, die Inbetriebnahme beschädigter Häfen, die Schiffbarmachung der durch Trümmer gesperrten Flüsse, die Unterbringung ganzer Völker in provisorischen Wohnstätten, die ungeheueren Lebensmitteltransporte über Meer und Land an Kraft der Leistung den größten und heroischsten Unternehmungen des letzten Krieges nicht nachstehen.

In unserem kleinen, alltäglichen Gesichtsfeld, das uns freilich das nächste ist, sind statt der nahrhaften Materie die abstrakten Kalorien Trumpf gewesen - die moderne Wissenschaft, die uns diese Lehre bescherte, hat schwer gesündigt, und die Richter der Geschichte werden eines Tages den Stab über sie brechen, und die Stromabschaltungen, die den Berlinern diesen zweiten Winter nach der Kapitulation verdunkeln, sind, so geringfügig sie in größerem Zusammenhang erscheinen mögen, ein Krisensymptom allererster Ordnung. Immerhin ist auch im kleinen Kreise, im einzelnen vielleicht unmerklich, insgesamt aber doch wesentlich, manches gegen das Vorjahr besser. Die Beziehungen zwischen der Besatzung und der Bevölkerung sind gelockerter und menschlicher geworden, mit den Kriegsgefangenen besteht endlich Postverbindung, viele sind zurückgekehrt, die noch in England Verbliebenen haben mehr Bewegungsfreiheit, in Frankreich müht man sich, ihr Los zu erleichtern, die aus amerikanischen Lagern Stammenden werden im Frühjahr und Sommer entlassen, aus Rußland sind manche zurück und weitere wohl zu erwarten: Tropfen, armselige Tropfen des Trostes gewiß, wenn man es so aufzählt, und trotzdem, alles zusammen, nicht ganz wenig angesichts des totalen Chaos, das Deutschland unter Hitler über die Welt gebracht hat; der Postverkehr mit dem Auslande ist aufgenommen, aus vielen Ländern, kommen Pakete herein, es begegnet uns viel Liebe, mehr jedenfalls, als wir verdient haben, England und Amerika wenden große Summen für unsere Ernährung auf, Deutsche werden zu Kongressen und Besprechungen ins Ausland geladen. Keine Rübezahl-, aber auch keine Eulenspiegel-Bilanz.

Wendet man sich der politischen Sphäre zu, so wird man dieses Jahr 1946 allgemein das Jahr der Wahlen nennen können, das dem Inneren der europäischen Länder die unterbrochene Ordnung zurückgegeben und den verschiedensten Wandlungen Rechnung getragen hat. In Deutschland hat gleichzeitig der föderative Aufbau gute Fortschritte gemacht, die drei süddeutschen Länder haben ihre Verfassungen, die Vereinigung der britischen und der amerikanischen Zone birgt Zukunftsmöglichkeiten auch für eine Entwicklung im weiteren Sinne, die Gewerkschaftsbewegungen aller Zonen steuern dem Zusammenschluß zu, die Freiheit der Presse ist bis zu den durch die Okkupation gezogenen Grenzen gesichert, in der amerikanischen Zone, die auf dem Wege der praktischen Demokratie immer voran ist, wird auch das Radio deutschen Händen anvertraut, und zu Weihnachten hat General McNarney durch die Amnestierung der nicht aktiven Pgs mit kleineren Einkommen sogar dem Herzen mehr nachgegeben, als es das politische Prinzip verträgt. Die Wahlen sind überall in Europa, wo sie frei waren, in einem sehr rationalistischen Sinne verlaufen, Christentum und Sozialismus waren die beiden Pole, die sich nicht mehr abstießen, sondern anzogen, und mit der einzigen Ausnahme von Frankreich erlitt der Kommunismus in allen tatsächlich von Einschüchterung freien Wahlen eine Niederlage. Die alte These, daß eine zertrümmerte und gequälte Welt eine leichte Beute des Kommunismus sei, ist widerlegt worden, und die Tragik, die darin.liegt, daß der Arbeiter in demselben Maße, in dem er sich aus der Fessel eines Objektes der Unternehmer zu befreien suchte, in die Fessel eines Objektes des Parteidoktrinarismus geriet, diese Tragik beginnt sich zu lösen. In Belgien, Frankreich, der Tschechoslowakei nähert sich die Industrieproduktion dem Stande von 1938. Verschiedenen Staaten gab Amerika Kredite. Als ein Novum in der völkerrechtlichen Uebung konnten einzelne Staaten vor Friedensschluß, so Italien mit England, in Handelsbesprechungen treten. All das wird hier wahrhaftig nicht angeführt, um ein optimistisches Bild der Lage zu zeichnen; indessen es entspricht den Tatsachen, für die der Sinn in der Misere oft verlorengeht, und es sind keineswegs Kleinigkeiten, wie sich später einmal zeigen wird.

Der beste Lehrmeister ist die Zeit - für den, der überhaupt lernen will. Allerdings genügt es nicht, allein auf die Zeit zu vertrauen, und Untätigkeit ist noch niemals meisterhaft gewesen. Wer sich bemüht, die Dinge nicht bloß an sich, sondern auch in der richtigen Perspektive zu-sehen, darf dieses abgelaufene Jahr mit dem Jahre 1939 vergleichen, was um so eher statthaft ist, als sich damals das vorbereitete, was uns jetzt mit seinen Folgen zu schaffen macht. Damals wie heute wandelten wir auf dem schmalen Grat, der den Frieden vom Krieg und den Krieg vom Frieden trennt. Aus dem Politischen Ins Ethische übersetzt, war das Jahr 1946 für uns die Periode der Erfassung der vollen Größe des Unheils, in das Deutschland durch seinen Hitler die Welt gestürzt hat. Napoleon, sagte, eine Nation sei nicht geschlagen, ehe sie sich geschlagen fühle. Wir möchten sagen: eine Nation wie die deutsche nach Hitler kann sich nicht regenerieren, ehe sie sich geschlagen fühlt. Wenn ein deutscher Pfarrer, der von Hamburg aus zu den Engländern im Radio sprechen durfte, dies nur zu propagandistisch anmutenden Klagen über die deutsche Not benutzt, ohne ein Wort über die wahren Urheber nicht nur unserer Nöte zu finden, oder wenn Herr Steltzer, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein und offenbar neidisch auf Scheidemanns verdorrte Hand, erklärt, kein Deutscher werde einen Vertrag unterzeichnen, der nicht die Rückerstattung der Ostgebiete enthalte, und wenn er außerdem England törichte Gegenrechnungen präsentiert, so wird man in dieser Sprache nur eine kindische Verwechslung mit dem Jahre 1919 entdecken können, die die Gegensprache einer französischen Zeitung, der "France Libre", rechtfertigt: "Wir haben für die Lehre zahlen müssen, daß ein Volk, das durch ein geographisches Verhängnis unser Nachbar ist, von gefährlichen Instinkten beherrscht wird." Das sollte man auch beherzigen, wenn von der Saarfrage die Rede ist. Die banale Quintessenz der CDU-Erklärung, Frankreichs Sicherheit sei am besten in der "Fundierung des neuen demokratischen Deutschtums" verbürgt, dürfte in der realen Welt, die die Geschichte kennt und die Gegenwart.beobachtet, nur ein böses Gelächter zum Echo haben, zumal sie von der Drohung mit einer Störung der "inneren Wandlung des deutschen Volkes" begleitet ist. Deutschland hat bedingungslos kapituliert, und was danach zu geschehen habe, ist in Jalta beschlossen worden. Das sind die harten Tatsachen, aber wenige in Deutschland scheinen ihre Tragweite zu begreifen. In diesem Augenblick geht Frankreichs Saarpolitik allein die Alliierten an, die danach streben, ihre 'Beschlüsse über Deutschland gemeinsam zu fassen und einseitige Aktionen zu vermeiden. Wir Deutschen werden gut daran tun, uns mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß, wenn das Ruhrgebiet bei Deutschland bleibt, dafür wahrscheinlich ein Preis gezahlt werden muß. Dem Verlust des schlesischen Kohlenreviers steht nichts gegenüber, was wir dadurch für uns bewahren könnten, und hier, im nahen Osten, verstummen seltsamerweise diejenigen, die zum ferneren Westen hin protestieren, vor der Wucht der Wirklichkeit. Bedingungslose Kapitulation heißt, daß nach unseren Empfindungen nicht gefragt wird. Es ist sehr traurig, aber daß es traurig ist, dafür haben wir Herrn Hitler ja sorgen lassen.

Sollten wir das Ereignis nennen, das uns für das Jahr 1946 als das charakteristischste, bedeutendste und erfreulichste erscheint, so würden wir ohne Zögern antworten: das Urteil von Nürnberg. Und sollten wir dasjenige nennen, dessen Ausbleiben uns als ebenso charakteristisch, bedeutsam und unerfreulich erscheint, so müßten wir erwidern: die Wiedergutmachung des himmelschreienden Unrechtes an unseren jüdischen Mitbürgern. Ein süddeutsches Blatt berichtete kürzlich, daß in Rheinland-Pfalz ein Wiedergutmachungsentwurf kritisiert würde, weil er dazu führen könne, daß eine jüdische Gemeinde den Wiederaufbau ihrer Synagoge verlange. Hier wäre Gelegenheit zu Protesten für den Hamburger Pfarrer, für Herrn Steltzer, für die CDU. Hier aber - wird geschwiegen. Und solange hier geschwiegen wird, wo es um eine Grundfrage der Gesinnung geht, und dort deklamiert, wo nationaler Lorbeer billig wie Brennesseln ist, solange kann diesem Lande nicht geholfen werden, solange werden die besten Jahre unseres Lebens weiter vertan sein.

Auf internationalem Felde endet das Jahr mit mancherlei Spannungen. Dennoch ist die UN ihrer Charta gerecht geworden, soweit es, in diesem Anfangsstadium möglich war. Ein Forum der Menschheit ist entstanden, das niemand mehr verneinen oder mißachten kann, und eben dies hat auch auf den Ausgang der Friedenskonferenzen günstig eingewirkt. Das nächste Jahr wird vieles fortsetzen, ohne alles zu beenden. Mißtrauen und Hoffnungslosigkeit sind die größten Gefahren; das vergangene Jahr hat sie so klar erkannt, daß das neue alles daran setzen wird, sie zu überwinden. Mit mehr Berechtigung als bei der letzten Jahreswende darf man unter den Ueberraschungen auch angenehme erwarten. Ob sie soweit gehen, wie Madame Tabouis sie nach einer Meldung der Associated Press in der "France Libre" sieht - Rußland werde zu Abkommen über die Wirtschaftseinheit Deutschlands und die Schaffung eines deutschen Bundesstaates bereit sein - soll einstweilen unerörtert bleiben. Aber eine Einigung zwischen Amerika und Rußland hat nicht nur weltpolitische Bedeutung. Sie ist das einzige Mittel, vielen Deutschen die unsinnige Illusion zu nehmen, das Heil Deutschlands liege in einem Kriege des; Westens gegen den Osten. Der Klarheit des Argumentes, daß in einem solchen Kriege, wie er auch endete, Deutschland ganz erlöschen würde, sind diese Kreise nicht zugänglich. Daß Deutschland selbst nie mehr einen Krieg führen kann, das wissen sie als die technischen Spezialisten, die sie sind. Zu der Ueberzeugung, daß er, wenn er sich führen ließe, wiederum gegen eine vereinte Welt geführt werden müßte, kann ihnen einzig das offenkundige Einvernehmen der Alliierten verhelfen. Bis eine neue Generation im Lande aufgewachsen ist, der auch die Gesinnung des Friedens so selbstverständlich ist, daß sie in ihr die besten Jahre ihres Lebens genießen kann, muß eben die Praxis fortgesetzter Enttäuschungen die närrischen Illusionen zerreißen.

Tweets aus der Nachkriegszeit mit Zitaten und Beiträgen des Tagesspiegel-Gründers Erik Reger und anderer Tagesspiegel-Autoren aus jener Zeit finden Sie hier.

Erik Reger

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