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Besucher fotografieren von den Feiern zum Einheitstag über einen Zaun vor dem Brandenburger Tor.

© dpa/Jens Büttner

Tag der Deutschen Einheit: Wie hast du die Wende überstanden?

Was Umbrüche betrifft, verbirgt Ostdeutschland unter zerrütteten Gefühlen einen Erfahrungsschatz. Nennen wir ihn "Chance Management" - und heben wir ihn! Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Robert Ide

Wieder Chemnitz. Wieder Sachsen. Wieder Ostdeutschland. Kurz nach den rechtsextremen Aufmärschen fliegt die nächste rechtsterroristische Zelle im Süden des Ostens eines Landes auf, das in diesen Tagen gerne inmitten von Berlin die deutsche Einheit feiern möchte, sich aber selbst immer fremder vorkommt. Dem Bericht zur Lage der Nation ist längst die Leichtigkeit abhanden gekommen: Angst regiert auf den Straßen und in den Köpfen – und die Politik zeigt sich in Angst vor dieser Angst erstarrt. Angela Merkel war seit den Ausschreitungen noch nicht in Chemnitz; sie hat derzeit andere Sorgen und will im November mal mit den verunsicherten Menschen reden. So lange verstreicht wieder Zeit.

Deutschland, vereinigt seit 28 Jahren, lässt immer noch Chancen verstreichen, sich selbst besser zu verstehen. Dabei lassen sich gerade auf den Straßen und an den Stammtischen von Ostdeutschland durchaus Erklärungen finden für die Enttäuschung über eine Einheit, die zwar die Städte schöner, die Umwelt sauberer, die Leben freier gemacht hat – die aber eben dennoch keine Vereinigung in gegenseitiger Sehnsucht und auf gleicher Augenhöhe war.

Auch deshalb richtet sich in Ostdeutschland die Wut der Hutbürger gegen eine ostdeutsche Kanzlerin, die mit ihren Wurzeln lieber nicht so viel zu tun haben will. Und sowieso gegen alles angeblich Westdeutsche, selbst wenn die eigenen Kinder und Enkelkinder längst im real existierenden Kapitalismus angekommen sind – und selbst wenn auch im Ruhrgebiet Räume der Ratlosigkeit von Rechten besetzt werden. Eine Entschuldigung für Rassismus, Ausländerhass, für offene oder verdeckt geplante Gewalt kann und darf erfahrene Zurechtweisung und gefühlte Zurückweisung niemals sein. Aber wer demokratische Räume zurückerobern will, muss persönlich und politisch willens sein, Menschen ihre Angst zu nehmen. Zuhören wäre dafür ein lang ersehnter Anfang.

Nach dem Umbruch teilten sich allzu viele Träume

Gerade zum Tag der Einheit sollte sich Deutschland fragen und im kleinen Familienkreis oder am großen Stammtisch der Berliner Republik darüber reden, ob wir mehr Neugier aufeinander wagen und wieder neu zueinander finden - als Deutsche, als Demokraten, als weltoffene Bürger. Denn so ist die Einheit vor fast drei Jahrzehnten ja erst zustande gekommen: durch eine friedliche Revolution mutiger Bürgerinnen und Bürger, die endlich in einer wirklich Deutschen Demokratischen Republik leben wollten und deshalb die DDR abschafften.

Nach dem Umbruch teilten sich allzu viele Träume: Die höheren Löhne, die Vorstandsposten und die Erbschaften auf der hohen Kante des Wirtschaftswunders blieben dort, wo sie waren. Und viele im Osten mussten über Nacht sehen, wo sie bleiben. Sie kämpften sich hartnäckig zurück in ein neues, aufregendes Leben. Doch vergessen haben sie den Makel der Einheit nicht. Er ging mit der Erfahrung einher, dass sich der Staat insbesondere auf dem Land zurückzog - bei der Gesundheitsversorgung, im Nah- und Fernverkehr, beim Internetausbau und bei Jugendprojekten gegen Rechts in Chemnitz. Wut wächst auf Leere. Als Liebe abgebaut wird sie nur mit Mut.

"Unterleuten", "Gundermann", der Fokus verschiebt sich

Wie hast Du die Einheit überstanden? Inzwischen rückt diese Frage im Osten stärker in den Fokus des Erinnerns als die lange Zeit zurecht wichtige Frage, wer was warum in der DDR getan hat – und welchen Preis er oder sie dafür gezahlt hat. Nun wird der Preis der Einheit verhandelt: In Romanen wie „Unterleuten“ und Filmen wie „Gundermann“ über einen singenden Baggerfahrer erstehen ostdeutsche Sagas über Menschen, die in der DDR keine Helden waren, die sich aber unkaputtbar durch die Stürme der Nachwendezeit schufteten. Was Umbrüche betrifft, verbirgt Ostdeutschland unter zerrütteten Gefühlen einen verschütteten Erfahrungsschatz – durch Neugier aufeinander ließe er sich für alle heben. Denn neue Umbrüche erfassen längst ungeteilt das ganze Land; da kann Erfahrung im "Change Management" nicht schaden. Und gar nicht nebenbei könnte noch Stolz auf Selbsterreichtes entstehen, der nicht auf Nostagie aufbaut, sondern in der Gegenwart emotional Halt gibt.

Das Wort der Wende war: Wahnsinn. Wer hat Lust dazu und wer macht Lust darauf, jetzt wieder danach zu suchen? Mit der Zeit zum Zuhören in öffentlichen Foren, mit dem Mut zum Streiten auch an den Familien- und Gartentischen, mit dem Wunsch sich gegenseitig Ängste zu nehmen, die weniger mit Ost und West, Flüchtling oder Zugezogener zu tun haben, sondern vielmehr mit der rasenden Veränderung der Lebenswelt: der durchdigitalisierten Verdichtung von Arbeit und Freizeit, fehlender Sicherheit für Kinderbetreuung und Altenpflege, mit dem Gefälle zwischen Vorstandsabfindungen und Zuschüssen zur Grundsicherung.

Es geht um Mitmenschlichkeit im Umgang, gefühlte Gerechtigkeit in sozialen Fragen und politische Empathie in Umbrüchen. Dazu gehört das Erzählen, welche alte deutsche Einheit wir uns damals erträumt haben und welche neue wir uns heute erträumen. Vielleicht erkennen wir so zum Tag der Einheit, wie viel Freiheit wir schon gewonnen haben in den letzten fast drei Jahrzehnten und wie wertvoll sie in einer immer instabileren Welt ist. Halten wir sie fest, indem wir uns öfter mal festhalten, mehr aufeinander achten, uns demokratische Räume zurückholen und uns endlich länger zuhören. Es ist genug Zeit verstrichen, aufeinander zu warten und übereinander zu urteilen.

Und jetzt erzähl Du mal.

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